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Twitter-Account löschen? Unser Chef verabschiedet sich von X und Elon Musk

Die Party ist vorbei. Unser Chefredakteur will nie wieder twittern.
Die Party ist vorbei. Unser Chefredakteur will nie wieder twittern.Bild: Picture Alliance / Jaap Arriens / Nurphoto
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Danke, Twitter! Danke für nichts, X! Weshalb ich mich jetzt endgültig verabschiede

19.12.2023, 19:5020.12.2023, 07:53
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Nach elf Jahren und neun Monaten habe ich genug: Ich mache Schluss mit Twitter, das mittlerweile ja X heißt. Der Link zu diesem Text wird der letzte Beitrag sein, den ich twittere.

Mich hat mit Twitter immer eine Hassliebe verbunden, genährt von meiner privaten Faszination für Social Media und meiner beruflichen Aufgabe, Facebook, Twitter und Instagram für Medienmarken zu verantworten. Ich war Social-Redakteur in der Sportredaktion von Sky, Social-CvD bei web.de und GMX, Social-Media-Teamleiter des stern.

Ich habe im Job Tweets auf TV-Bildschirme gebracht, als das noch neu und sexy war, Millionen von Follower:innen mit News versorgt, Community Management strukturiert und Reichweiten- und Markenstrategien entwickelt.

Viele der Pläne sind nicht aufgegangen, doch das Try-and-Error-Prinzip hat mich immer motiviert. Die stetigen Veränderungen waren meist mehr Herausforderung als Freude, doch das sorgte dafür, dass die Aufgaben nie langweilig wurden. Der Kampf gegen Algorithmen wurde zu meiner Leidenschaft – ohne das je gewollt zu haben.

Ich wurde zufälligerweise just in jenem Moment Digitaljournalist, als Deutschland begann, Social Media zu entdecken. Das hat meine Karriere nachhaltig beeinflusst. Vermutlich wäre ich heute nicht Chefredakteur von watson, wenn ich anhand von Social Media nicht früh in meiner Karriere hätte beweisen können, dass ich weiß, wie man Strategien für den Onlinejournalismus entwickelt und mit einem Team mit Leben füllt.

Das Spannendste am Social-Media-Kosmos war immer die Geschwindigkeit, mit der Dinge anders wurden. Weil sich die einzelnen Netzwerke anpassten, aber auch, weil neue entstanden und alte verschwanden. Ich lache mit Ex-Kolleg:innen immer noch über unsere ambitionierten Pläne auf Google+, Vero oder Clubhouse.

Der erste Griff am frühen Morgen ging früher zum Handy. Um Twitter zu öffnen.
Der erste Griff am frühen Morgen ging früher zum Handy. Um Twitter zu öffnen.Bild: unsplash / akshar dave

Auch heute sind die Veränderungen greifbar. Weil auf der einen Seite Tiktok beginnt, auch ältere Zielgruppen anzusprechen, während auf der anderen Seite X Stück für Stück in die Bedeutungslosigkeit rutscht. Zum ersten Mal in der Geschichte von Social Media fährt sich ein Schwergewicht der Branche selbst gegen die Wand.

Jüngst sorgte ein neuer Eklat um Antisemitismus und Nazi-Inhalte für Schlagzeilen. Die Organisation Media Matters zeigte auf, wie Werbung neben Beiträgen mit positiven Einschätzungen über Adolf Hitler und die Ideologie der Nationalsozialisten auftauchte. Einige große Firmen wollen nun gar nicht mehr auf X werben. Das passt zum Gesamtbild: Elon Musk räumte zuvor bereits ein, dass die Werbeerlöse nur noch in etwa halb so hoch seien wie zu Twitter-Zeiten.

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Ich möchte nicht behaupten, dass die Welt auf Twitter jemals rosarot war. Es gab nie einen Grund, Twitter zu glorifizieren. Klar, die Idee war und ist brillant, doch das Social Network hat nie die entscheidenden Schritte gemacht, um profitabel zu werden oder seiner sozialen Verantwortung gerecht zu werden.

Über Jahre machte Facebook vor, wie man mit Social Media Geld verdienen kann, Meta machte es mit Instagram noch besser. Twitter hingegen kam nie vom Fleck, obwohl es das einzig funktionierende Breaking-News- und Live-TV-Second-Screen-Network war. Lange Zeit war ich überzeugt davon, Google würde sich den blauen Vogel irgendwann einverleiben.

Es kam bekanntermaßen anders.

Vielleicht war man beim Suchmaschinengiganten schlau genug zu erkennen, dass der Kern von Twitter immer verdorben war: Das soziale Netzwerk geht auch dafür in die Geschichte ein, Hatespeech und Fake News salonfähig gemacht zu haben. All die Bemühungen, dagegen anzukommen, verpufften mehr oder minder ergebnislos. Was viel über einige User:innen und die mangelnde Qualität der Maßnahmen aussagt.

Ich musste schon früh in die Abgründe menschlicher Digitalkommunikation schauen. In der Sportredaktion von Sky erlebten wir schnell, wie sich Menschen gegenseitig beleidigen, einem Fußballer den Tod wünschen oder ankündigen, mit Fackeln vors Firmengebäude zu ziehen, weil gerade ein Stream abgeraucht ist.

Früher brauchte es keine Aufforderung zum Twittern. Ich habe es freiwillig gerne gemacht.
Früher brauchte es keine Aufforderung zum Twittern. Ich habe es freiwillig gerne gemacht.Bild: unsplash / chris j. davnis

Zu Beginn dachte ich, das sei der Emotionalität des Sports geschuldet. Dann sagte Angela Merkel "Wir schaffen das" und Donald Trump wollte US-Präsident werden. Und ich musste mir eingestehen, dass meine Annahme hochgradig naiv war.

Dennoch war Twitter eine verlässliche Größe, wenn man sich die richtigen Bubbles aufbaute: mit planbarer Reichweite, sauberem Output und, für Journalist:innen das A und O, extrem guten Recherchemöglichkeiten in Nachrichtenlagen.

Heute ist das Geschichte, denn Elon Musk hat Twitter im Rekordtempo in seine Einzelteile zerlegt. Der Anfang vom Ende war für mich die Abschaffung der kostenlosen Verifizierung von Institutionen, Organisationen, Prominenten und Medien, weil dieser Schritt Lügner:innen den roten Teppich ausrollte.

Hinzu kommt, dass man mehr oder minder gleichzeitig die Reichweiten massiv beschnitt. Wer heute sicherstellen will, dass die eigenen Tweets auch gesehen werden, muss als Firma mehr als 1100 Euro pro Monat zahlen, als Privatpersonen knapp 20. Das Kernversprechen aller sozialer Netzwerke, mit herausragendem Content organisch viral gehen zu können, wurde von X beendet.

Das Ergebnis ist, dass der Feed eine einzige Katastrophe ist. Früher habe ich Twitter 30 bis 50 Mal am Tag geöffnet. Heute ignoriere ich X teils tagelang.

X ist eine einzige Shit-Show geworden. Eine Diskussionskultur existiert nicht mehr. Aus allen Ecken brüllen Faschist:innen, Lügner:innen, Chatbots und Verschwörungstheoretiker:innen das, was sie Meinung nennen, in den digitalen Raum, während die wenigen klugen Beiträge niemand mehr sieht.

Twitter war nie gesund für diese Welt, doch es war auf seine ganz eigene Weise immer genial. X hingegen ist die Ausgeburt der digitalen Hölle. Ich will dieses Netzwerk nicht mehr aktiv nutzen und ich kann es mittlerweile auch nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren.

Ein bisschen mehr Liebe hätte Twitter schon immer gut getan.
Ein bisschen mehr Liebe hätte Twitter schon immer gut getan.Bild: unsplash / carsten winegeart

Für mich als Chefredakteur von watson hat diese Thematik noch eine weitere Ebene. Denn meine Redaktion wird gut beraten sein, sich in ihrer Gesamtheit mehr und mehr von Twitter zu lösen. Das Einbetten von Inhalten dieser Plattform ist kaum mehr zu verantworten, die Recherche ohne das eingestampfte kostenlose Tweetdeck seriös nicht mehr möglich.

Jedoch: Es fehlt die echte Alternative, weshalb sich alle Redaktionen so schwertun, Twitter den Rücken zu kehren. Mastodon war, wie auch schon andere Plattformen, nur ein Strohfeuer. Und der aktuelle Hype um Bluesky beschränkt sich noch auf Deutschland (folgen kannst du mir hier). Dennoch ist die App, wie auch Threads, vielversprechend – vorausgesetzt, die Funktionalitäten werden rasch und intelligent weiterentwickelt.

Wir werden uns 2024 einen konkreten Plan überlegen müssen, wie als Redaktion ein Leben ohne Twitter aussieht. Denn es ist für mich unvorstellbar, dass X unter Elon Musk in ein paar Jahren noch wirklich für die breite Masse sinnvoll nutzbar ist.

Privat jedoch ziehe ich schon jetzt den Stecker. Und es fällt mir nicht einmal schwer. Die Twitter-Sucht, die ich einst hatte, hat sich von ganz allein erledigt.

Danke für alles Twitter. Fuck off, X. Ich werde dich nicht vermissen.

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