Leidet ein Freund oder Familienmitglied an Depressionen, weiß das Umfeld oft nicht, was man tun kann. Bild: Unsplash / Malicki M Beser
Mental Health To Go
Mike Kleiß wollte es längere Zeit nicht wahrhaben, dass ein sehr nahes Familienmitglied unter starken Depressionen litt, denn es machte ihn unsicher. Und dann folgte dieses lange Gespräch, das alles veränderte.
Triggerwarnung: Im folgenden Text geht es um Depressionen und Suizid. Solltest du selbst von Suizidgedanken betroffen sein, suche bitte sofort Hilfe. Zum Beispiel bei der Telefonseelsorge, die 24 Stunden am Tag kostenfrei erreichbar ist: 0800 1110111.
Als mein Vater mir erzählte, dass sich mein Urgroßvater das Leben nahm, noch bevor mein Vater geboren war, berührte mich das nicht besonders. Ich kannte ihn nicht, ich wusste nichts über ihn. Als ich jedoch die ganze Geschichte im Detail hörte, das war viele Jahre später, bedrückte mich das massiv.
Mein Urgroßvater litt über viele Jahre an Depressionen, eines Tages fand ihn mein Großvater in der Waschküche. Damals war mein Opa schon mit meiner Großmutter zusammen. Sie sagte mir einmal: "Die Schreie von Opa werde ich nie vergessen, als er versuchte, ihn wiederzubeleben."
Während ich das hier aufschreibe, habe ich dieses Bild im Kopf, obwohl ich es ja gar nicht gesehen habe.
Ich war sehr eng mit meinem Großvater, ich wuchs die ersten Jahre meines Lebens bei Oma und Opa auf, Großvater hat nie über diesen fürchterlichen Verlust gesprochen. Der Schmerz war wohl zu groß, und außerdem redete man in dieser Generation nicht über sowas. Und genau das war auch das Problem meines Urgroßvaters: Er redete nicht über seine Krankheit.
Über "Mental Health to go"
Deutschland ist erschöpft, sagen Expert:innen. Ob jung oder alt, ob Gen Z oder Boomer, viele kommen einfach nicht klar. Alles too much, alles nicht so, dass sich das Leben gut anfühlt. Was also tun? Das wird, da ist sich Mike Kleiß so sicher wie viele Expert:innen, das zentrale Thema unserer Gesellschaft werden. Je klarer wir mit uns und der Welt sind, je mehr wir gut auf uns achten, desto besser kann die Welt für uns werden. Wir müssen es eben nur tun! In "Mental Health to go" bekommt Ihr jede Woche ein kleines Stückchen Energie. Tipps und Anregungen, nahbare Geschichten, die euch inspirieren sollen
Depressionen: Verdammt, warum reden wir nicht darüber?
Seit dem Freitod meines Urgroßvaters sind wir inzwischen 80 Jahre weiter, und doch treten wir auf der Stelle. Er ließ sein komplettes Umfeld im Dunkeln, selbst seine Frau. Sie ahnte wohl etwas, aber sie wusste nicht, wie sie mit ihrem Mann umgehen sollte. Also schwieg sie.
So ist es oft bis heute. Auf der einen Seite hat gefühlt jeder Zweite einen Coach, ist in Therapie. Wer heute einen Termin bei Gesprächstherapeut:innen möchte, kann sich auf Wartezeiten von bis zu einem Jahr einstellen. Und auf der anderen Seite ist es noch immer tabu, offen mit den Seelenschmerzen umzugehen.
Schon im Job ist es quasi unmöglich, in der Partnerschaft teilt man oft alles, aber bitte nicht die Tatsache, dass man depressiv ist. Wir sitzen auf dem Klo, während sich der andere die Zähne putzt, das geht. Aber wenn die dunklen Dämonen kommen, ist Stille? Das ist krank. Das ist auch unfair, das kann man so nicht bringen.
Ich bin noch immer wütend, merke ich. Auf einen Freund, der sich vor zwei Jahren das Leben nahm. Er redete nicht. Er redete einfach gar nicht, ich sprach ihn an, weil ich ein Gefühl hatte, aber er beschwichtigte nur.
Rausgehen kostet depressive Menschen oft schon viel Kraft.Bild: Unsprlash / Kristina Tripkovic
Freunde und Bekannte spüren oft eine Ohnmacht, die krank macht
Ich kannte Matze viele Jahre, bevor er sich entschied, für immer zu gehen. Er war zunächst der Geschäftsführer einer großen Sportmarke, so lernte ich ihn kennen. Er war der knallharte CEO, wir seine Agentur, und ich leitete das Team.
Aus einer Kunden-Agentur-Beziehung wurde über die Jahre eine tiefe Freundschaft, na ja, eventuell nicht tief genug. Wir sprachen über alles, er fragte mich auch dann um Rat, als er das Unternehmen verließ. Wir gingen zusammen laufen, wir sprachen über unsere Ehen, seine Kinder, seine Herzkrankheit.
Die Depressionen klammerte er aus.
Es kam der Tag, an dem sich Matze krankmeldete. Für länger, sagte man mir dort. Wir waren wieder seine Agentur, und Matzes neuer Boss informierte mich. Mein Bauchgefühl sagte mir, da stimmt etwas nicht. Und zwar so sehr, dass ich per Whatsapp das formulierte, was ich in mir hatte: Sorge!
Ich schrieb ihm genau das, dass ich in Sorge sei. Und dass ich gerne mit ihm sprechen würde. Nach ein paar Stunden meldete sich Matze. Er zeigte sich gerührt, er bedankte sich und versprach, sich zeitnah zu melden. Das war dienstags. Am Sonntag nahm er sich das Leben. Eine logische Folge der Entwicklung der letzten Jahre, schrieb mir seine Tochter traurig, aber auch stumpf.
Nachrichten kommen an. Darauf zu antworten, fühlt sich mit Depressionen oft unmöglich an.Bild: Unsplash / Jonathan Borba
Matzes Umgang mit der Depression hatte, das erfuhr ich später, eine ganze Familie verletzt, fassungslos gemacht, hilflos werden lassen, sie waren alle – neben der unglaublichen Trauer – wütend auf ihn, er hatte sie emotional erpresst, gelähmt und gefesselt. Nicht, weil er es so bewusst steuerte, er konnte nicht anders. Seine Frau hatte Matze mit dem Wissen geheiratet, dass er unter Depressionen litt. Allerdings wusste sie zu keinem Moment, wie schlimm diese ausgeprägt waren. Matze hatte die Krankheit an seine Kinder weitergegeben, die jedoch ganz anders damit umgingen, nämlich offen.
Der einzige Weg, mit Matzes Dämonen umzugehen, war, dass die ganze Familie akzeptierte, dass sie den Mann, den Vater, eines Tages seinem selbst gewählten Schicksal überlassen mussten. Sie beschlossen, Jahre vor seinem Freitod, immer für ihn da zu sein, machten aber ihren Frieden mit der Tatsache, dass alles plötzlich vorbei sein konnte. Dabei wurden sie eng durch Therapeut:innen begleitet, sonst wären sie alle seelisch komplett zerstört worden. So war, und das klingt ganz schlimm, Matzes Tod eine Art Erleichterung.
Ich wünschte, ich hätte von seiner Krankheit gewusst. Ich vermisse ihn.
Wie geht man mit Menschen um, die an Depressionen leiden?
Depressionen waren mehr oder weniger immer sehr nah an mir dran. Und immer wieder musste ich die Frage beantworten: Wie geht man mit Menschen um, die einem unglaublich nah sind, die an dieser Krankheit leiden?
Man kann in Wahrheit kaum etwas tun. Für den, der an Depressionen leidet, ist es alleine wichtig zu wissen, dass im Zweifel immer jemand da ist. Jede Form vom aktiven Hilfe-Angebot setzt diese Menschen meist unter Druck und sie ziehen sich zurück.
Auch ich habe gelernt zu akzeptieren, dass ich nur bedingt helfen kann. Und dass ich die Entscheidung über Leben und Tod niemals beeinflussen kann. Vor allen Dingen aus einem wichtigen Grund: Eine tiefe Depression gehört in die Hände von Fachleuten, und in die, der sie hat. Alles, was wir entgegenbringen können, ist Verständnis, Liebe, Akzeptanz.
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Als ein sehr nahes Familienmitglied endlich über die eigenen Depressionen sprach, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. "Nimm es mir bitte niemals übel, wenn ich mich Wochen und Monate nicht melde. Ich sehe, dass Du anrufst. Ich sehe all Deine Nachrichten, aber mir fehlt die Kraft, mit Dir zu sprechen", begann er ein langes Gespräch, das im wahrsten Sinne Licht ins Dunkel brachte.
Er fasste das ganze Ausmaß seiner Depression so zusammen: Er hat seit Jahren gerade einmal die Energie am Morgen aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen. Davor hat er kaum geschlafen, meist den Kopf zwischen den Beinen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Nachdem er vom Job kommt, ist der Kopf wieder dort, wo er vor der Arbeit war: zwischen den Beinen. Er ist in dieser Zeit weder ansprechbar noch erreichbar. Für niemanden.
Als er für einige Tage nicht ans Telefon geht, wird die Polizei gerufen. Als diese vor der Türe steht, öffnet er verwundert. Er hatte ja nur den Kopf zwischen den Beinen.
Das Gespräch hat beiden Seiten viel Klarheit gebracht. Er weiß, dass mich sein Verhalten schmerzt, ich weiß, dass er nicht anders kann. Das macht es nicht besser, aber eben klarer. Er weiß, dass ich fühlen kann, wie er sich fühlt. Er weiß auch, dass ich ihn sehen kann, aber dass mir die Hände gebunden sind.
Er alleine muss seine Entscheidungen treffen, und ich hoffe, es sind vor allen Dingen die, die das Leben umarmen. Ich musste lernen, loszulassen, und zu vertrauen, dass er die richtige Entscheidung trifft.
Um ehrlich zu sein, habe ich mich innerlich verabschiedet. Allerdings nur von der Idee, mit ihm jemals ein gesundes Familienmitglied zu haben. Ich werde nicht mehr auf seinen Rückruf warten, sondern freue mich über alles, was kommt.