Mit den steigenden Infektionszahlen werden auch kritische Stimmen vor allem gegen junge Menschen lauter: Politiker und Politikerinnen, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, richteten sich in vergangener Zeit regelmäßig an junge Erwachsene und mahnten sie zum Einhalten der Corona-Regeln an.
Mit dem immer wieder anklingenden Vorwurf, junge Leute würden die Pandemie nicht ernst genug nehmen und stattdessen zu viel feiern, kann sich Nina Böhmer nicht anfreunden. Die 28-jährige Pflegerin wurde im März bekannt wegen ihres Facebook-Postings, in dem sie die mangelnde Wertschätzung in der Pflege anprangerte. Seitdem hat sie ein Buch veröffentlicht: "Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken".
Bei watson spricht Böhmer über die mangelnden Investitionen ins Gesundheitssystem – die junge Menschen wie sie nun mit ausbaden müssen.
Die Corona-Infektionszahlen steigen wieder, die ersten Ortschaften in Deutschland gehen in den Lockdown, Sperrstunden und Beherbergungsverbote werden verhängt und teils wieder gekippt: Eigentlich hört man fast nur noch negative Nachrichten. Die Lage in meiner Arbeit hat das, ehrlicherweise, noch nicht wirklich beeinflusst – weder positiv noch negativ: Material und Personal sind immer noch knapp. Stattdessen spüre ich eher, wie sich die Anspannung vor allem gegenüber jungen Menschen während der Corona-Krise immer weiter zuspitzt.
Ich bin 28 Jahre alt und bin Krankenschwester in einer Zeitarbeitsfirma, in den vergangenen Tagen war ich in Psychiatrien und Stationen mit Menschen mit Behinderung beschäftigt. Von den steigenden Corona-Zahlen bekommt man hier nicht so viel mit, wie auf anderen Stationen – bis auf die Tatsache, dass Masken selbst hier nach wie vor knapp sind. Pro Dienst habe ich einen Mund-Nasen-Schutz zur Verfügung.
Eigentlich sollte man ihn alle paar Stunden wechseln, spätestens aber, wenn man mit einer Person zu tun hatte, die eine ansteckenden Krankheit hat – neben Corona gibt es natürlich auch immer noch Influenza, Noro oder krankenhausresistente Keime. Ob das mit den Masken eine Sparmaßnahme ist oder wirklich nicht mehr zur Verfügung stehen, das kann ich nicht sagen.
Der ständige Personalmangel ist selbstverständlich auch noch ein Thema. Obwohl wir im Frühjahr so viel über die Missstände in der Pflege diskutiert haben, obwohl die Menschen auf den Balkonen standen und für uns klatschten, obwohl die Politiker uns Besserung versprochen haben, sind wir immer noch dünn besetzt und häufig unterbezahlt. Anstatt dass jetzt endlich nachhaltig ins Gesundheitssystem investiert wird, wird der Fokus aktuell auf junge, angeblich ständig feiernde Menschen gelenkt. Man hat das Gefühl, dass ihnen die aktuelle Situation beziehungsweise die hohen Infektionszahlen in die Schuhe geschoben werden, anstatt die Fehler im System zu suchen und zu beheben. Als junge Frau fühle ich mich von den Anschuldigungen natürlich auch betroffen.
Gerade von Frau Merkel bin ich enttäuscht: Sie scheint alle jungen Leute in eine Schublade zu stecken. Das finde ich unfair.
Wenn das Gesundheitssystem top wäre, könnten wir entspannter an die Sache herangehen und müssten nicht über Sperrstunden und Lockdowns reden oder gar welche beschließen. Wir müssen ja auch an die Wirtschaft denken, die Veranstalter und die Gastronomie. Nicht nur Senioren haben ein Recht, geschützt zu werden – auch Unternehmer.
Denn wären die Arztpraxen, Kliniken und Pflegekräfte allesamt gut mit Schutzmaterialien versorgt und gäbe es genügend Personal, um krankheitsbedingte Ausfälle aufzufangen, könnten wir eine bessere gesundheitliche Versorgung von Anfang an gewährleisten. Wer schon beim Hausarzt bei ersten Corona-Symptomen behandelt wird, muss vielleicht gar nicht erst ins Krankenhaus, das würde alle entlasten. Zudem dürfen wir nicht vergessen: Jetzt, in den kalten Jahreszeiten, gehen auch andere aggressive Viren wie das Norovirus herum. Das kann schon mal ganze Stationen lahmlegen, inklusive Pflegekräfte. Dann fehlt es auch an Personal für Corona-Patienten, aber so weit voraus scheint gerade niemand zu denken.
Außerdem treffen Maßnahmen wie Sperrstunden am Ende vor allem die Betreiber und die jungen Menschen: Nicht, weil sie besonders viel weggehen und feiern würden, das ist eine falsche Annahme, denn auch ältere Menschen feiern gerne. Es sind allerdings häufig junge Menschen und Studenten, die in Bars und Clubs arbeiten. Sie drohen, ihre Jobs zu verlieren – weil ihnen angelastet wird, die Pandemietreiber zu sein.
Dabei handeln viele von ihnen extrem verantwortungsbewusst, halten sich an Hygiene- und Abstandsregeln, kümmern sich um ihre kranken Familienmitglieder. Und selbstverständlich gibt es im medizinischen Bereich genügend Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in meinem Alter, die ihre Aufgabe extrem ernst nehmen.
Ich bin dafür, das Problem an der Wurzel zu packen, anstatt Sündenböcke zu finden und sie unnötig zu bestrafen. Corona ist eine weltweite Herausforderung, keine Frage. Vor allem ältere Menschen und Risikopatienten sollten dringend geschützt werden. Das können wir aber nur, wenn Pflegekräfte wie ich unterstützt und das Gesundheitssystem in seiner Gesamtheit gefördert wird. Die Krise darf nicht dazu führen, dass einzelne Personengruppen verantwortlich gemacht werden und obendrein unter ineffizienten Maßnahmen leiden müssen, das wäre Augenwischerei.
Noch ist die Situation unter Kontrolle: Der große Corona-Ansturm auf die Krankenhäuser hat noch nicht stattgefunden. Wir haben zwar genügend Intensivbetten, aber leider nicht genug Fachkräfte. Trotzdem die Lage ist noch überschaubar. Aber es ist ein fragiles System. Daran sind nicht einzelne Schuld.
Protokoll: Agatha Kremplewski