"Dieses Mal könnt ihr auch ein Foto zeigen", sagt Saif im watson-Gespräch. "Denn jetzt bin ich in Sicherheit." Hier steht der GIZ-Mitarbeiter aus Kabul vor einem deutschen Jobcenter. Bild: privat
Nah dran
Es war eine der wenigen guten Nachrichten, die mich an einem Sonntag um 9.08 Uhr per Handy erreichte: Saif (Name geändert), eine Ortskraft aus Kabul, mit dem ich seit der Machtergreifung der Taliban im August für watson in Kontakt stehe, war endlich in Sicherheit, in Deutschland.
Gerade noch rechtzeitig, so scheint es. Denn im Windschatten des Ukraine-Kriegs sollen die Taliban groß angelegte Razzien gegen Ortskräfte durchführen, sie selbst nennen das eine "Säuberungsaktion", meldet die Nachrichtenagentur AFP schon wenige Tage nach Kriegsbeginn. Afghanische Journalisten und Hilfsorganisationen berichteten von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen von Ortskräften, die am 25. Februar begonnen hätten, also einen Tag nachdem Russland seine Truppen auf ukrainisches Staatsgebiet schickte. Menschen, die in Afghanistan für ausländische Organisationen gearbeitet hätten, würden nun an der Ausreise gehindert, hieß es weiter.
Für Saif wäre das verheerend gewesen. Monatelang hatte der afghanische Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kabul um sein Leben gefürchtet und auf eine Evakuierung gehofft, die mit jeder Woche unwahrscheinlicher schien.
Die ganze Zeit über schickten wir uns WhatsApp: "Wie geht es euch? Könnt ihr zum Einkaufen auf die Straße? Habt ihr was vom Auswärtigen Amt gehört?" Wir sprachen zufällig gerade, während die Bombe am Kabuler Flughafen hochging. Saif berichtete von einer großen Explosion, zwanzig Minuten später erreichten mich erste Bilder im Feed.
Saif berichtete auch von leergefegten Innenstädten, von Schüssen und Schreien bei Nacht und einer zunehmenden Verzweiflung. Er hatte große Angst, dass die Taliban sich rächen würden dafür, dass er über 15 Jahre lang deutsche Entwicklungshelfer als Logistiker unterstützte. Fast ein halbes Jahr lang harrte er aus, hoffte auf Hilfe und verlor zunehmend den Glauben an die Versprechen aus den deutschen Ministerien. Auch die Nachrichten wandten sich wieder anderen Themen zu – Menschen wie Saif schienen vergessen.
Doch zum Neujahr klingelte plötzlich mein Handy: "Hallo Julia. Ich bin in Deutschland!" Überraschend und heimlich hätte die Ausreise stattgefunden, so Saif, der nun nicht mehr in Kabul, sondern Baden-Württemberg lebt.
Für watson berichtet der Anfang 40-Jährige hier von den Monaten, in denen er sich vor den Taliban versteckte, seiner Flucht über Katar und den ersten Eindrücken von Deutschland im Winter.
"Das Wort Immigration ist für mich sowohl mit Freude als auch Trauer verbunden. Die Trauer, von der Familie getrennt zu sein, den Vertrauten und Freunden, wird begleitet von dem Gefühl der Traurigkeit allen Menschen in meinem Land gegenüber. Kabul und fast ganz Afghanistan wurde eingenommen von Männern auf Motorrädern, mit Kalschnikows vom Schwarzmarkt und Sandalen an den Füßen. Ein Sieg von vielleicht 70.000 Taliban über eine Armee von über 300.000 Soldaten – ein Trauerspiel der Geschichte.
Als Saif die konkrete Bestätigung
für seine Evakuierung erhielt:
"Ich brach in Tränen aus. Ich weinte wirklich lange. Nicht nur aus Erleichterung, sondern auch, weil meine Frau und meine Kinder es dermaßen verdient haben."
Hatten wir wirklich 300.000 Soldaten in Afghanistan im Einsatz? Oder waren viele davon imaginäre Truppen, die nur in den Büchern des inkompetenten Präsidenten Ghani existierten? Waffen und Geld wurden in Regionen transferiert, in denen gar keine Armee zu sein schienen. So wie Afghanistan auch Schulen gefördert hat, in denen nur imaginäre Schüler von imaginären Lehrern unterrichtet wurden... Die Korruption stank zum Himmel und der Geruch verdarb die Atmosphäre.
Heute kommt mir vieles, was im Afghanistan der vergangenen Jahre passiert ist, wie ein reines Hirngespinst vor. Der unverantwortliche Abzug der Truppen aus dem Westen, allen voran der USA, war der Schlag auf den sowieso schon leblosen Körper Afghanistan.
Unsere Leben sind exemplarisch für viele Millionen Afghanen, wir sind eine ganz normale Familie: Anfang 2004, als ich erst 24 Jahre alt war, begann ich für die GIZ zu arbeiten, welches damals in Afghanistan noch GTZ hieß. Ich war zufrieden mit dem Gehalt, dass sie mir boten und glücklich, weil ich große Hoffnungen für die Zukunft meines Landes hatte. Ich habe an diese Institution geglaubt und mich ihr mit vollem Einsatz verpflichtet.
Ich wollte, dass meine Kinder irgendwann studieren, vielleicht als Ingenieure, Lehrer oder Anwälte arbeiten. Meine einzige Tochter sah ich immer als Ärztin, die zukünftigen Generationen helfen würde. Leider war das nur ein Traum. Denn die afghanische Regierung hat sich gegenüber ihrer Bevölkerung nie anständig verhalten und im August 2021, nach nur zehn Tagen Attacken durch die Taliban, floh unser Präsident und sein Stab aus dem Land.
"Eines Nachts hörten wir die Schreie und das Weinen von Kindern im Nachbarhaus, deren Vater von den Taliban abgeführt wurde. Auch er hatte als Ortskraft gearbeitet."
Die ganze Stadt Kabul war damals in Panik. Wenn ich die Vorhänge an den Fenstern meiner Wohnung beiseite schon, sah ich zahlreiche Menschen auf der Flucht. Im Fernsehen wurde zeitgleich verkündet, dass die Taliban nun im Präsidentenpalast seien und es keinerlei afghanische Armee mehr gäbe.
Im August versuchten tausende Menschen verzweifelt, Afghanistan über den Flughafen zu verlassen.Bild: dpa / Wali Sabawoon
Das Pentagon gab bekannt, dass US-Truppen die Evakuierung von US-Bürgern und Ortskräften in Kabul sichern würden. Tausende stürmten zum Flughafen, die nur noch weg wollten. Diese verzweifelten Menschen wurden noch auf dem Weg zu den Flugzeugen von Taliban beschossen. Dutzende wurden umgebracht und schwer verletzt, während sie von Flugzeugen wieder heruntergeschubst oder in den wartenden Massen erdrückt wurden.
Ausharren inmitten der Taliban
Meine Kollegen und ich erhielten derweil Textachrichten der Sicherheitsabteilung des GIZ, dass wir uns nicht gefährden und nicht zum Flughafen begeben sollten. Wir wurden angehalten, in unseren Wohnungen zu warten, bis auch deutsche Ortskräfte evakuiert werden könnten. Zeitgleich machten sich die Taliban auf, all die tausenden von Menschen ausfindig zu machen, die in der Vergangenheit mit westlichen Regierungen gearbeitet hatten. Ich hatte so eine Angst, dass ich kurz davor war, all meine Dokumente zu verbrennen.
Meinen Kindern sagte ich immer, dass alles gut sei und dass sie keine Angst haben müssten. Ich wollte nicht, dass sie sich machtlos fühlten. Meine Frau war von dem ganzen Druck wie ausgebrannt. Zwischenzeitlich spielte sie mit der Idee, dass wir die Wohnung verlassen und heimlich Unterschlupf suchen sollten, denn die Taliban waren bereits in unserer Nachbarschaft unterwegs. Eines Nachts hörten wir die Schreie und das Weinen von Kindern im Nachbarhaus, deren Vater von den Taliban abgeführt wurde. Auch er hatte als Ortskraft gearbeitet.
Ich war wie erstarrt und rechnete jeden Moment damit, dass es klingelte und dann jemand vor unserer Tür stünde, um mich zu holen. Mich erreichten Fotos von Kollegen, die von den Taliban verprügelt worden waren. Doch schon bald nutzte ich das Internet, vor allem die sozialen Netzwerke gar nicht mehr, da ich dachte, die Taliban könnten so auf mich aufmerksam werden.
Die Tage vergingen und wir waren in unserer Wohnung wie eingesperrt. Ich ging fast niemals hinaus, und wenn doch, verkleidete ich mich mit einem langen Bart und einem Hut, um nicht erkannt zu werden. Die Banken waren geschlossen. Mein Gehalt musste ich mir über einen Mittelsmann abholen, der in Absprache mit dem Büro heimlich das Geld auf der Straße übergab.
Eine Frau verlässt einen Laden in Kabul im Dezember.Bild: ap / Petros Giannakouris
Einmal, als ich unterwegs war, um die Pässe für meine Kinder zu besorgen, wurde ich von Taliban erkannt. Sie schlugen vor den Toren der Behörde auf mich ein, bis ich es schaffte, wegzurennen. Es gelang erst meiner Frau, alle Dokumente zu bekommen, die für einen Evakuierungsprozess gefordert wurden. Doch der Weg nach draußen schien dennoch versperrt.
"Ich war wie erstarrt und rechnete jeden Moment damit, dass es klingelte und dann jemand vor unserer Tür stünde, um mich zu holen."
Wir erhielten zwar schon im Oktober deutsche Visa per E-Mail, doch die Bundesregierung mahnte, dass Transfers aus Afghanistan nicht mehr umsetzbar seien und Einreisen nur noch über ein drittes Land möglich. Also beantragten wir Visa für Pakistan und warteten und warteten. Fast zwei Monate. Nichts passierte. Meine Kinder wurden immer nervöser: Warum sie nicht zur Schule dürften, fragten sie oft. Warum ich mein Gesicht verändern würde. Anspannung umschreibt das Gefühl, das mich in diesen Monaten umtrieb, nicht einmal im Ansatz.
Der erlösende Anruf aus Deutschland
Und plötzlich, im November und wie aus dem Nichts, rief eine sehr eloquente Frau auf meiner deutschen Handynummer an. Sie war vom Bundesinnenministerium und bat mich, alles was wir nun besprächen, für mich zu behalten – aus Sicherheitsgründen. Sie sagte, wir sollten uns auf einen Flug nach Katar vorbereiten.
Ich brach in Tränen aus. Ich weinte wirklich lange. Nicht nur aus Erleichterung, sondern auch, weil meine Frau und meine Kinder es dermaßen verdient haben, wie viele Millionen anderer Menschen auch, zumindest eine Chance auf Bildung und ein Leben in Freiheit zu erhalten.
Am 23. November machten wir uns heimlich auf den Weg zum Flughafen und kamen nur kurz danach in Doha an. Dreizehn Tage verbrachten wir dort in einem Flüchtlingscamp, bevor wir nach München ausgeflogen wurde. Nach einer zehnstündigen Busfahrt landeten wir in Osterheide, einem ehemaligen Militärareal. Eine Woche lang waren wir dort, bis man uns nach Baden-Württemberg in eine Flüchtlingsunterkunft brachte. Ich habe deutsche Freunde hier, allen voran ein Kollege vom GIZ damals, in dessen Nähe ich natürlich lieber gewohnt hätte, aber vorerst wurde das so organisiert.
Momentan leben meine sechs Kinder, meine Frau und ich auf zwei Zimmern in einem Gemeinschaftshaus. Gegen Corona wurden wir bei der Ankunft geimpft. Die Wohnsituation ist für meine Kinder zu beengt, aber ich hoffe, dass wir im Frühling ausziehen können. Wir warten noch darauf, wie es für uns weitergeht in Sachen Wohnung und Arbeit. Ginge es nach mir, könnte es direkt losgehen, ich bin in einem sehr guten mentalen Zustand und hoffe sehr, dass ich diesem Land von Nutzen sein kann, für das ich auch schon vorher immer gerne gearbeitet habe. Momentan lerne ich Deutsch in einem der städtischen Kurse und wenn ich die Sprache langsam verstehe, rückt auch meine Arbeitserlaubnis näher – es wäre toll, wieder auf den eigenen zwei Beinen zu stehen.
"Ich bin wirklich sehr glücklich im Moment. Die Menschen, denen ich begegne, sind unheimlich nett und respektvoll zu mir."
Meine Kinder sind froh, endlich wieder zur Schule gehen zu können und ich bringe sie jeden Tag zu Fuß zum Unterricht und hole sie nachmittags wieder ab – der Winter in Deutschland war ja wirklich nicht so schlimm. Ich habe natürlich kein Auto hier, aber wenn ich spazieren gehe, sehe ich viele schöne Orte in der Umgebung. Es ist wunderbar, meinen Kindern zuzusehen, wie sie auf den Spielplätzen und in den Parks spielen, wie sie es in ihrem Alter tun sollten. Ich bin wirklich sehr glücklich im Moment. Die Menschen, denen ich begegne, sind unheimlich nett und respektvoll zu mir.
Im Februar zeigten sich Aktivistinnen über soziale Medien weltweit solidarisch mit den Frauen Afghanistans.Bild: abaca / SalamPix/ABACA
Wenn ich heute an Afghanistan denke, kommt mir manchmal der Gedanke: Immerhin haben Frauen von den vergangenen Jahren profitiert. Viele von ihnen durften fortschrittlich, frei und intellektuell aufwachsen. Diese Frauen bewiesen ihren Vätern, dass sie oft sogar erfolgreicher als die Söhne der Familie waren und veränderten damit die alten Sichtweisen auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft nachhaltig.
Es ist hart für einen Menschen, den Ort seiner Heimat zurückzulassen. Vergessen kann man ihn niemals. Alles, was ich momentan aus meinem Heimatland höre, sind Nachrichten der Unterdrückung und des Leidens. Doch in Afghanistan kommen und gehen Regierungen wieder. Das Land ist jetzt auf dem Weg in eine unsichere Zukunft, aber meine Hoffnung ist, dass auch die Taliban wieder verschwinden – irgendwann..."
Protokoll: Julia Dombrowsky