Wer derzeit auf den Kanarischen Inseln Urlaub macht, könnte statt auf Souvenirverkäufer:innen auf Hungerstreikende und Graffiti stoßen. "Tourist go home!", steht an Wänden nahe den Strandpromenaden. Die Nachricht soll Tourist:innen von Teneriffa, Gran Canaria, Lanzarote und Co. vertreiben.
An diesem Wochenende wird es noch ungemütlicher für Reisende. Auf allen sieben Inseln sind Demonstrationen der Einwohner:innen geplant.
Was ist da los? Darüber sprach watson mit Altaha. Eine Person, die zum Kern des derzeitigen Anti-Tourismus-Protests auf Teneriffa gehört.
Altaha (they/them) ist 25 Jahre alt und lebt in La Laguna im Elternhaus: "Ich bin hier geboren und jobbe als Surflehrer. Ich war auch Barkeeper in einem Nachtclub, aber derzeit bin ich arbeitslos und suche einen Job."
Altaha hat sich einer Gruppe angeschlossen, die "Canarias se Agota" (in etwa: Die Kanaren sind erschöpft) heißt und soziale Gerechtigkeit auf den Kanaren fordert. Dafür müsse der Tourismus eingedämmt werden, glauben sie.
Am 20. April planen sie Demonstrationen auf allen sieben kanarischen Inseln. Zudem befinden sich einige der Gruppe seit dem 11. April in einem improvisierten Camp im "Hungerstreik".
Damit wollen sie "die ökonomische und soziale Zerstörung unserer Region stoppen". Altaha führt aus:
Die Graffiti, die im Süden von Teneriffa aufgetaucht sind, findet Altaha gerechtfertigt. Sie "zeigen nur, dass die Bedürfnisse in unserer Bevölkerung oft nicht beachtet werden."
Sie seien eine "Aufforderung, sich zu fragen, welche Rolle man hier spielt. Wir fordern dich als Tourist:in auf, dir die soziale Situation der Bevölkerung bewusst zu machen."
Die Kanarischen Inseln wurden Ende des 15. Jahrhundert vom spanischen Königreich unterworfen. Historiker:innen gehen davon aus, dass 90 bis 95 Prozent der Urbevölkerung im Rahmen dessen vernichtet wurde. Sie wurden im Kampf getötet, als Sklaven verkauft oder erlagen Krankheiten.
Das Klima auf den Inseln war ideal für den profitablen Anbau von Zucker, Tomaten und Bananen. Der Lebensraum der Altkanarier war nun Nutzfläche: Wälder wurden für Agrarflächen abgeholzt, Wasseradern umgeleitet. Die reiche Artenvielfalt der Inseln reduzierte sich. Altaha:
Was damals Kolonialismus war, sei heute der Kapitalismus, meint er. Ein drastischer Vergleich. Was aber stimmt: Die Landwirtschaft wurde in den 60er-Jahren durch den Tourismus verdrängt.
Große Hotelanlagen und billige Flüge machten den Urlaub auf den Kanaren erschwinglich, der Boom setzt sich bis heute fort. "Zuerst verbesserte der Tourismus für viele der Anwohner:innen die Lebensbedingungen", gibt Altaha zu:
Fast 14 Millionen Tourist:innen besuchten 2023 die Kanarischen Inseln. Sie gaben etwa 170 Euro am Tag aus (Bericht der Handelskammer Santa Cruz de Tenerife). Für Unternehmer:innen ist das ein profitables Geschäft.
Die Geringverdienenden, sagt Altaha, erleben eher die Schattenseiten des Hypes: "Wir, mit unseren niedrigen Löhnen, können mit den Preisen für Nahrungsmittel und Dienstleistungen nicht mithalten, die sich Europäer:innen mit ihren hohen Gehältern vom Festland hier leisten können."
Früher habe sich, zumindest auf Teneriffa, das Problem auf den Süden konzentriert. Dort waren große Ferienanlagen, die lokale Bevölkerung lebte dafür im Norden der Insel. Doch:
Reisende, die ein authentisches Erlebnis wollen, verdrängten die Bevölkerung aus ihren Lebensräumen. Verstärkt würde das Problem durch die Zunahme von Homeoffices und Remote Work. "Immer mehr Europäer:innen ziehen hierher, um ein Ferienhaus zu kaufen oder als digitale Nomaden zu leben, wodurch viele von uns ins Ausland müssen", erklärt Altaha.
Die Wohnungsnot der Bevölkerung ist real. In vielen Gemeinden stehen Häuser leer, weil sie als Zweitwohnsitz von Tourist:innen dienen (z. B. 48 Prozent in Garafia, La Palma), gleichzeitig haben sich auf Teneriffa Elendsviertel gebildet, in denen derzeit 2400 Menschen in Zelten oder Wohnwagen hausen (Angaben der Caritas). Wie kann das sein?
Wirtschaftlich betrachtet ist Tourismus zwar ein Gewinn für das Gastgeberland, doch der Ertrag kommt bei den Anwohner:innen nicht an. Das monatliche Durchschnittsgehalt auf den Kanarischen Inseln liegt fast 32 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt (1568 Euro vs. 2302 Euro, Angaben der Jobbörse Addeco).
Schuld daran sei die Regierung, meint Altaha: "Statt Steuergelder zu nutzen, um die Bedürfnisse aller zu erfüllen, verwendet unsere Regierung das Geld stets dort, wo es Menschen zugutekommt, die eh schon profitieren." Solange dieses Missverhältnis bestünde, müsse der Tourismus eingedämmt werden.
Doch die Kritiker:innen ernten ebenfalls Kritik. Nicht nur aus dem Ausland, wo sich Menschen fragen, "ob sie ihr sauer verdientes Geld dann eben woanders ausgeben" (Good Morning Britain), sondern auch aus eigenen Reihen.
Wenn Tourist:innen wegblieben, "würde die Zahl der Menschen, die von Hilfe, Subventionen, öffentlichen Geldern und staatlichen Almosen leben, sprunghaft ansteigen", bemerkt zum Beispiel Sergio, ebenfalls ein Kanare, auf der Plattform X.
Altaha betont, dass der Protest nicht gegen Tourist:innen als Menschen gehe, sondern die Probleme, die sich durch sie ergeben, "weil der Tourismus die Kanarischen Inseln zum Kollabieren bringt und uns ohne Zukunft zurücklässt."
Zudem würde "die Natur überstrapaziert und durch die schiere Masse an Menschen zerstört. Das Meer rund um die Inseln wird giftiger, durch all den Müll, den wir in den Ozean ablassen." Tatsächlich zahlen die Kanaren jedes Jahr Strafen in Millionen-Höhe wegen Umweltschutz-Vergehen an die EU, weil sie ihre Abwässer ins Meer leiten. Große Bauprojekte verdrängten Natur und Tiere auf den Inseln. Die Inseln leiden unter Wasserknappheit.
"Also bitte, wenn ihr Europäer:innen seid, dann erzählt eurem Umfeld von unseren Problemen", sagt Altaha und wird deutlich:
Auch vom Kauf einer Ferienwohnung oder dem Schwärmen über die günstigen Produkte rät Altaha ab: "Solltest du hier Geld sparen, hör bitte damit auf. Für dich ist es nur billig, weil wir für den Wert unserer Arbeit nicht korrekt bezahlt werden und unser Land zerstört wird."
Die Proteste werden so lange weitergehen, bis dieses Anliegen erhört wurde, sei es durch die Regierung oder die Tourist:innen selbst. Altaha: "Wir wollen hier nur in Ruhe leben, nicht mehr."