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"Nach außen waren wir das Traumpaar": Wie Saphira häusliche Gewalt erlebte und was Frauenrechtler fordern

A woman hiding face. Violence against women concept. Depressed teenager sitting holding head in hands, stressed sad young woman having mental problems.
Vier von fünf Opfer partnerschaftlicher Gewalt waren auch 2020 noch Frauen. (Symbolbild)Bild: iStockphoto / Tinnakorn Jorruang
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"Nach außen waren wir das Traumpaar": Wie Saphira häusliche Gewalt erlebte und was Frauenrechtler fordern

26.11.2021, 20:0129.11.2021, 14:41
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Wie würde wohl eine Zukunft ohne Gewalt gegen Frauen aussehen? Wenn es nach den Vereinten Nationen ginge, wäre die Antwort auf diese Frage: Orange. Sie installierten 2016 den "Orange Day" zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt an Frauen und wollen damit einmal im Jahr am 25. November ein weltweites Zeichen setzen, dass auch heute noch zahlreiche Frauen in Not sind. Deshalb erstrahlen weltweit an diesem Tag Gebäude in der Farbe Orange.

Frauenrechtler unterstützen den Aktionstag, der dazu dienen soll, die Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, das leider immer noch aktuell ist – auch unter der Pandemie. Denn: Gewalt gegen Frauen nimmt nicht ab. Und sie findet meist nicht auf offener Straße statt, sondern an dem Ort, an dem jeder sich eigentlich sicher fühlen sollte: Zuhause. Ausgerechnet durch die Menschen, die man liebt.

"Ich war nur noch ein Schatten meines Selbst"– Bericht einer Betroffenen

Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Gewalthandlungen und deren Folgen für Betroffene geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.

Diese Erfahrung musste auch Saphira (Name geändert) machen, die gegenüber watson von jahrelangen Misshandlungen berichtet. "Wir haben uns als Teenager kennengelernt. Es war schnell klar, dass wir zusammenbleiben wollen. Das sind wir dann auch. Etwas mehr als zwanzig Jahre. Die letzten zehn Jahre davon waren die Hölle", sagt sie.

Saphira führt weiter aus:

"Rückblickend betrachtet, gab es die ersten Ausraster schon vor unserer Hochzeit. Ganz selten nur. Einzelne Wutausbrüche. Mal flog der Staubsauger in die Scheibe vom Badezimmerfenster, mal wurde ich auf offener Straße angeschrien, weil ich versehentlich etwas kaputtgemacht hatte."

Wie viele Opfer von Gewalt redete sich Saphira das Problem klein. "Ich habe es entschuldigt. Mir gesagt, dass er gerade Stress hat. Dass es normal ist, dass man mal wütend wird. Nach der Geburt unserer beiden Kinder wurde es schlimmer. Die guten Phasen nahmen stetig ab, die schlechten stetig zu", sagt die 42-Jährige.

"Irgendwann gab es so gut wie keine guten Phasen mehr. Ich war allein für die Versorgung der Kinder und den Haushalt zuständig. Ging nebenbei noch stundenweise arbeiten. Er war immerzu wütend. Schrie mich an. Ignorierte mich. Es gab keine Umarmungen mehr. Keine Nähe. Keine Zärtlichkeit. Keinen Sex. Stattdessen erklärte er mir jeden Tag, wie unfähig ich sei. Dass es zu Hause aussehe wie bei den Hempels. Erklärte mir, dass es kein Wunder sei, dass er nicht mit mir ins Bett wolle – so unattraktiv, wie ich sei."

Irgendwann gibt Saphira nach.

"Ich gab mir mehr Mühe. Doch es war nie genug. Irgendwann kamen die körperlichen 'Ausrutscher' dazu. Er hat nie offensiv zugeschlagen. Dazu war er zu klug. Dann hätte ich ja etwas beweisen können. Er stellte das weitaus geschickter an: Mal flog ich gegen den Schrank, weil er mich im Flur angeblich nicht gesehen hatte und mich 'versehentlich' angerempelt hatte. Meinen Kopf schlug er im Auto gerne nach hinten, weil er sonst im Seitenspiegel nichts sehen könne", erinnert sich die Mutter von zwei Kindern.

Sie sagt:

"Er erklärte mir, dass ich übertreibe. Dass man das eben mal so macht. Dass ich zu empfindlich sei. Irgendwann machte er vor den Kindern auch nicht halt. Erst bekamen sie seine Wutausbrüche zu spüren, dann auch handgreifliche 'Ausrutscher'. Mein Sohn war sechs, als er mir sagte, dass er sehr große Angst vor seinem Vater hat. Ich wollte für meine Kinder immer eine heile Familie. Die existierte nicht. Das wurde mir nach den Worten meines Sohnes endgültig klar."

Hilfe bekam Saphira aus dem Freundeskreis:

"Ungefähr zur gleichen Zeit hat mein Mann angefangen, sich vor anderen nicht mehr zu verstellen. So wurden Freunde darauf aufmerksam, was bei uns Zuhause geschieht. Und sie sprachen mich an. Das war mein Glück. Denn von selbst hätte ich mich nicht mehr getraut. Ich hatte kein Selbstbewusstsein mehr. Ich war nur noch ein Schatten meines Selbst. Meine Freunde hörten mir zu und bestärkten mich in meiner Entscheidung, mich zu trennen."

Bis zur Trennung dauerte es dann nochmal ein knappes Jahr, resümiert Saphira:

"Es hat gedauert, den nötigen Mut dafür zu sammeln. Ich ging zuerst zu einer Familienberatungsstelle. Doch dort wurde mir geraten, Verständnis für meinen Mann zu haben. Er hätte es eben nicht anders gelernt. Ich war fassungslos. In einem Forum für Frauen mit Gewalterfahrungen habe ich mich dann endlich gehört gefühlt. Die Geschichten und der Zuspruch der Frauen haben mir sehr geholfen. Ich habe mich nicht mehr so allein gefühlt mit dem, was zu Hause geschieht. Im Frühling 2017 habe ich die Trennung ausgesprochen."

Im Sommer 2017 zog ihr Mann aus.

Die Schikane hörte damit aber nicht auf. Saphira sagt:

"Er versucht bis heute – auch noch fünf Jahre danach – immer wieder, über die Kinder seine Machtspielchen zu spielen und diskreditiert mich bei gemeinsamen Bekannten. Ich habe bis heute mit den Folgen zu kämpfen. Albträume. PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung, Anm.d.Red.). Und einiges mehr. Ich lebe sehr zurückgezogen. Es fällt mir schwer, mich auf Menschen einzulassen. Zu Vertrauen. Bei der Polizei war ich nie. Es gab nichts, das ich hätte anzeigen können, keine sichtbaren blauen Flecken oder Ähnliches. Und ich glaube auch nicht, dass mir jemand geglaubt hätte. Nach außen waren wir das Traumpaar schlechthin."

Polizei meldet: Partnerschaftsgewalt stieg im Corona-Jahr 2020

Die Fakten zu Geschichten wie Saphiras sind erschreckend. So zeigen die aktuelle kriminalstatistische Auswertung zu Gewalt in Partnerschaften durch das Bundeskriminalamt am Dienstag, dass in Deutschland im vergangenen Jahr 148.031 Menschen Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurden – das sind 6239 mehr als noch 2019.

Die Dunkelziffer liegt sehr viel höher, wie auch die Polizei in der Bewertung zu Bedenken gibt, es handelt sich um sogenannte "Hellfelddaten", also zur Anzeige gebrachte Taten. Die Polizei erfasst in der Statistik körperliche und sexuelle Misshandlungen sowie Stalking durch den Partner oder Ex-Partner.

Über 61 Prozent der Opfer erlebten demnach in 2020 vorsätzliche, einfache Körperverletzung, 12 Prozent gefährliche Körperverletzung, 0,3 Prozent wurden durch den Partner oder Ex-Partner sogar umgebracht.Das bedeutet konkret: Für 169 Menschen endete Partnerschaftsgewalt mit dem Tod. Darunter 139 Frauen und 30 Männer.

Bundeskriminalamt Gewalt Statisik
Bild: Bundeskriminalamt (BKA) / screenshot

Frauen werden mit Abstand häufiger Opfer von Partnerschaftsgewalt als Männer, insbesondere in jungen Jahren. Im Schnitt sind vier von fünf der Opfer weiblich (79,9 Prozent). Interessant ist allerdings, dass sich das Geschlechterverhältnis mit zunehmenden Alter verändert. Das Bundeskriminalamt gibt die Anzahl der weiblichen Opfer nach Altersklassen für 2020 wie folgt an:

  • unter 21 Jahren: 90,4 Prozent
  • 21 bis 25 Jahre: 86,1 Prozent
  • 25 bis 30 Jahre: 83,6 Prozent
  • 30 bis 40 Jahre: 81,1 Prozent
  • 40 bis 50 Jahre: 78,0 Prozent
  • 50 bis 60 Jahre: 70,5 Prozent
  • ab 60 Jahren: 67,2 Prozent

Übrigens: Die Daten der Polizei zeigen nicht auf, dass sich häusliche Gewalt durch die Corona-Lockdowns vermehrt hätte. Allerdings gibt das Bundeskriminalamt dazu an, "dass die Situation während der Lockdowns auch das Anzeigeverhalten von Opfern und die Entdeckungsmöglichkeiten durch Dritte beeinflusst hat, sodass es sich in diesem Deliktsbereich weiter vergrößert haben könnte." Erste Dunkelfeldergebnisse zu dem Thema (unter anderem durch die TU München) zeigen durchaus, dass Lockdowns zu mehr Bedrohung und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Partnern führten.

Die Kosten für die Gesellschaft sind enorm – auch finanziell

Eine aktuelle Studie des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen (EIGE) beschäftigte sich zudem mit einem interessanten Aspekt: die Kosten geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie schätzen diese in der EU auf 366 Milliarden Euro pro Jahr.

"Gewalt gegen Frauen kostet die Gesellschaft jährlich mehr als die Folgen von Verkehrsunfällen"
Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe

Die gesellschaftlichen Folgekosten von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen belaufen sich für Deutschland demnach auf rund 54 Milliarden Euro pro Jahr – 148 Millionen Euro pro Tag. Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) dazu: "Gewalt gegen Frauen kostet die Gesellschaft jährlich mehr als die Folgen von Verkehrsunfällen."

Hast auch du Gewalt zu Hause erlebt?
Es gibt professionell geschulte Menschen, die dir in solchen Situationen helfen können. Bedenke, dass Gewalt nicht immer in physischer Form, also durch Schläge oder Tritte, geschieht. Auch wenn dein Partner deine Gegenstände zerstört, dir Kontakt zu anderen Menschen verbietet oder dich terrorisiert, sind das Formen von Gewalt.

Wenn du dir nicht sicher bist, ob dein Partner Gewalt ausübt, du Angst hast und Hilfe suchst, ruf beim Hilfstelefon gegen Häusliche Gewalt an: 08000 116 016. Die Nummer ist rund um die Uhr erreichbar, kostenlos und anonym.
Auf der Website findest du auch einen Hilfe-Chat und E-Mail-Beratung – in 17 Sprachen, auch in Gebärdensprache.

Die hohen Kosten entstehen beispielsweise im Gesundheitssystem, bei Polizei und Justiz und durch Arbeitsausfall der Betroffenen. Nur ein verschwindend geringer Teil der 54 Milliarden wird bisher für die staatliche Finanzierung von Unterstützungsangeboten aufgewendet. "Dabei sind diese das wichtigste Instrument, um die Gewalt langfristig zu reduzieren und das Leiden der Betroffenen zu beenden", so Grieger weiter.

Aktivisten fordern Umsetzung der Istanbul-Konvention

Um die Gewalt und ihre Folgekosten langfristig zu reduzieren, muss die Istanbul-Konvention des Europarates vollständig umgesetzt werden, fordert das bff. Dies würde eine staatliche Gesamtstrategie zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt bedeuten und ausreichend Geld für das Unterstützungssystem. "Wir hoffen sehr, dass angesichts dieser erschreckenden Zahlen die Politik aufwacht und die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt ganz nach oben auf die politische Agenda setzt", resümiert Grieger.

Auch Saphira wünscht sich von der Politik, dass der Gewaltschutz und die Istanbul-Konvention umgesetzt werden: "Die Gewalt, die wir erleben, ist real. Wir haben sie uns nicht ausgedacht, um dem Mann 'eins auszuwischen'. Wenn wir den Mut gefunden haben, uns zu trennen, liegt meist ein langer Leidensweg hinter uns und oftmals auch hinter den Kindern. Es kostet uns viel, zu gehen. Und meist fängt der Kampf danach erst richtig an. Der Gewaltschutz darf nicht vom Umgangsrecht mit den Kindern ausgehebelt werden. Gewalt gegen die Mutter ist Kindeswohlgefährdung", sagt sie.

"Nehmt uns ernst. Glaubt uns endlich. Und beschützt uns und die Kinder"
Saphira gegenüber watson

Außerdem wünscht sie sich mehr Frauenhäuser und finanzielle Unterstützung, um diese zu betreiben. Um Frauen aktiv zu schützen, brauche es präventive Maßnahmen, die langfristig Wirkung zeigen, betont Saphira. An die Gesellschaft appelliert sie, dass Opfern von häuslicher und sexualisierter Gewalt stärker geglaubt wird: "Ich wünsche mir, dass nicht weggesehen wird, dass geholfen wird! Wenn ihr das Gefühl habt, jemand in Eurem Umfeld ist von häuslicher Gewalt betroffen, sprecht diejenige oder denjenigen an, bietet Hilfe an. Immer wieder. Betroffene brauchen Zeit, um den Mut zu finden, Eure Hilfe anzunehmen", bekräftigt sie.

Die Berliner Initiative BIG e.V. Berlin (Bei häuslicher Gewalt – Hilfe für Frauen und ihre Kinder) setzt sich für die Umsetzung der Istanbul-Konvention als auch generell für Frauenrechte und gegen Gewalt bei Frauen ein. BIG ist ein eigenständiger Verein, der seit 1993 im Feld arbeitet.

"Wir sind es gewohnt, dass den Leuten erst kurz vor dem 25.11. einfällt, dass hier ein relevanter internationaler Feiertag stattfindet", sagt Doris Felbinger, Geschäftsführende bei BIG gegenüber watson zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Gerade zur Corona-Zeit sei ein Zulauf an Menschen zu beobachten, die sich an die BIG Hotline wenden und auch verstärkt die Präventionsangebote nachfragen. "Es gab vermehrt Anfragen seit Beginn von Corona. Jedoch nicht nur von betroffenen Frauen, sondern auch von Unterstützenden, Freunden, Nachbarinnen. Die verstärkte Präsenz des Themas in den Medien und dass viele Menschen im Home Office erst merken, was nebenan passiert, wird ein entscheidender Auslöser dafür sein."

Die Angebote sind da, jedoch scheitert es an einer ungenügenden Finanzierung

Felbinger betont, dass es bei der Vermeidung von Gewalt, um den Ausbau eines Netzwerkes gehe. Deshalb wird neben dem Angebot einer kostenlosen und anonymen Beratung per Hotline großes Augenmerk auf Kooperation gesetzt. Damit es ausreichende und passgenaue Angebote gibt, arbeitet BIG Koordinierung seit über 25 Jahren eng mit allen Stellen zusammen, die mit dem Thema häusliche Gewalt befasst sind, wie Polizei, Zivil- und Strafgerichte, Jugend- und Sozialämter, Antigewaltprojekte und die zuständigen politischen Entscheidungsträger. So sollen Ursachen häuslicher Gewalt langfristig bekämpft werden.

"Der Gewaltschutz darf nicht vom Umgangsrecht mit den Kindern ausgehebelt werden"
Saphira gegenüber watson

Der Tag ist explizit den Frauen gewidmet. Jedoch wird bei BIG dafür gesorgt, dass bereits im frühen Alter alle Geschlechter zum Thema aufgeklärt werden.

Dieses Angebot gibt es bei anderen Frauenberatungsstellen nicht und ist damit deutschlandweit in dieser Form das einzige seiner Art.

"Mit unseren Kinder-Workshops 'Gewalt kriegt die rote Karte' an Grundschulen setzen wir mit unserer Einrichtung Prävention ganz bewusst im Bereich schulische Bildung an. Die Kinder üben praktisch, wie sie sich in schwierigen Konflikt- und Gewaltsituationen verhalten und schützen können und wie sie beim Miterleben von häuslicher Gewalt handeln, beziehungsweise sich selbst Unterstützung holen können. Im Kontext der Workshops werden immer auch alle pädagogischen Fachkräfte an den Schulen sowie die Eltern mit einbezogen. Aktuell bekommen wir so viele Anfragen, dass wir schon auf Termine in 2023 gehen müssen – ohne sichere Finanzierung bis dahin."
Doris Felbinger geschäftsführende bei BIG

Der finanzielle Aspekt sorgt dafür, dass Angebote und Bedarf auch bei anderen Einrichtungen im Anti-Gewalt-Bereich immer noch weit auseinanderklaffen. Auch der BIG e.V. fordert deshalb, dass die Istanbul Konvention konsequent umgesetzt wird. In der Anti-Gewalt-Prävention und -Koordination sollen mit betroffene Kinder stark einbezogen werden. "Denn das ist nicht nur gut und wichtig für die Betroffenen, das ist auch gut und notwendig für die Gesellschaft", so Felbinger.

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