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Gewalt gegen Frauen: Was wir im Alltag alles erleben

Protest of people against racism. People are marching in the city.
"Schaut euch um – ihr seid nicht allein!" - Gisèle Pelicot.Bild: Getty Images / FilippoBacci
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Gewalt gegen Frauen: Trauriger Alltag, den wir zu gut kennen

2024 wurden knapp 171.100 Fälle von Partnergewalt registriert – 1,9 Prozent mehr als 2023. Die Opfer sind meistens Frauen, die Täter meistens Männer. Aber auch außerhalb der eigenen vier Wände erleben Frauen regelmäßig Gewalt. Ein Blick in die watson-Redaktion zeigt: Kaum eine Frau hat dazu nichts zu erzählen. Deswegen erzählen wir jetzt.
25.11.2025, 09:2025.11.2025, 09:20
watson-Redaktion

Er nahm sich, was er wollte. Ohne meine Einwilligung.

Annika Danielmeier, Volontärin

Sein Bart in meinem Gesicht. Sein Bart in meinem Gesicht auf dem Weg nach Hause. Sein Bart in meinem Gesicht, als ich ins Bett ging. Beim Aufstehen. Beim Frühstück. In der Uni. Es gibt Erlebnisse, die Körper und Gedächtnis speichern, lange bevor man Worte für sie findet. Vielleicht, weil die eigene Mitsprache gar nicht gewünscht war. Vielleicht, weil die Worte für das, was vorgefallen ist, zu schrecklich wirken, um sie zu glauben oder auszusprechen. Stattdessen bleibt Sprachlosigkeit – und ein schreckliches Gefühl.

Sein Bart in meinem Gesicht am nächsten Tag. Und am nächsten. Bis ich nach einer Woche bei einem engen Freund weinend zusammenbrach. Und er die Worte sagte, die ich nicht sagen konnte: "Das war ein sexueller Übergriff. Sollen wir zur Polizei gehen?"

Wer der Mann ist, der mich ohne meine Einwilligung plötzlich an sich riss und küsste, wo und wann der Übergriff passierte – all das bleibt geheim. Nicht, weil ich ihn schützen will, sondern weil ich bis heute panische Angst davor habe, dass er von meinem Vorwurf erfahren könnte. Angst davor, dass am Ende seine Aussage gegen meine stünde. Und davor, dass es meine Geschichte wäre, die infrage gestellt würde. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist leider ziemlich hoch. Nur so viel: Er war kein Unbekannter.

Sprachlosigkeit bei Gewalterfahrung ist kein Zufall

Als es passierte, waren viele Menschen um uns herum. Dass es nicht länger dauerte, verdanke ich einer anderen Frau, die ihn mit einem entschlossenen Ruck von mir wegzog. Ich selbst tat das, was viele von uns im ersten Moment tun: gute Miene zum bösen Spiel. Ich lächelte, obwohl mir zum Kotzen zumute war. Ein verzweifelter Versuch, mir einzureden, dass das ja nun 'nicht so schlimm' gewesen sei. Doch mein Körper und mein Unterbewusstsein wussten es sofort besser. Sein Bart in meinem Gesicht.

In den Tagen danach redete ich mit zwei weiblichen Personen aus meinem Umfeld über das, was vorgefallen war. Unangenehm, ja, aber es sei ja nichts 'Schlimmeres' passiert, war die Rückmeldung. Ich nehme es ihnen nicht übel. Sie taten, was viele Frauen tun, weil wir es nicht anders gelernt haben: das übergriffige Verhalten von Männern kleinreden. Keine Worte finden, die angemessen beschreiben, was passiert ist. Sprachlosigkeit.

Aber für mich wurde es danach nur schlimmer. Von da an zweifelte ich die Situation an ("Übertreibe ich?"), suchte die Schuld bei mir ("Hätte ich seine eindeutigen Blicke in den Wochen zuvor besser deuten müssen?") und schämte mich. Unter Tränen bat ich den Freund damals, alles für sich zu behalten.

Den Täter damit konfrontieren kann ich bis heute nicht. Meine Sprache wiederfinden schon. Denn heute weiß ich: Die Sprachlosigkeit ist kein Zufall. Sie schützt nicht mich, sondern ihn.

In der Liebe kann ein gekränkter Mann ein sehr gefährlicher Mann sein

Anonym

"Frauen zu schlagen, ist das Letzte". Zu oft habe ich diesen Spruch von Männern gehört, die später gewalttätig wurden. Einer schmiss eine Dose nach mir, die neben meinem Kopf an die Wand donnerte, weil ich zu spät von einer Party kam. Ein Ex schubste mich gegen einen Laternenpfahl, als ich sagte, ich liebe ihn nicht mehr. Ein anderer würgte mich bis zum Nasenbluten, weil ich in einem politischen Streit ungläubig lachte: "Das ist jetzt nicht dein Ernst?!"

Den Vogel schoss eine Situationship ab, der mir mit der Faust ins Gesicht schlug, als er mich nachts mit einem anderen sah. Es knackte, Blut tropfte, die Polizei kam. Die Staatsanwaltschaft verurteilte ihn wegen Körperverletzung – was ihn nicht davon abhielt, mir Droh-Nachrichten zu schicken und vor meiner Tür zu stehen. Ich wurde im Supermarkt, auf der Arbeit und in der U-Bahn entsetzt angestarrt, so geschwollen und lila war mein Auge. Natürlich tat er sich in erster Linie selbst leid – ich hätte ihn "dazu getrieben".

Die Frage der Schuldzuweisung

Typisch. Wenn ich von Angriffen berichte, kommt immer die Frage: "Was hast du davor gemacht?" Ich frage mal zurück: Gibt es ein Verhalten, bei dem du sagen würdest: "Na dann ist es ja auch gerechtfertigt"?

Besagte Männer waren Akademiker, witzig und höflich – Typen, die Max, Finn oder Jonas heißen und sich sicher für gewaltfrei halten. Solange ich sie bestätigte, waren sie großartig. Eskaliert ist es immer, wenn ihr Ego verletzt wurde. Und das war schnell der Fall. Vielleicht hat ihnen niemand beigebracht, wie man mit Kränkungen umgeht. Aber es wird Zeit, dass sie es lernen.

Jeder wird mal enttäuscht, gerade in der Liebe. Trennungen, selbst Seitensprünge, gehören dazu. Sag doch einfach: "Richtig traurig, wie du dich verhältst. Das ist mir zu wenig. Ich will dich nie wiedersehen." Mic-Drop. Reicht.

Am Tag der Gewalt gegen Frauen geht es oft um migrantische Männer – oder um Frauen, die auch zuschlagen. Meine Erfahrung will mahnen: Das sind willkommene Ablenkungsmanöver, damit sich Paul und Noah nicht fragen müssen, ob sie auch schon einmal Täter waren. Aber fragt euch das bitte mal.

Physische Schmerzen können im psychischen Trauma enden

Melanie Köppel, Redakteurin

Jede Frau, die schon einmal dringend einen spontanen Termin in einer gynäkologischen Praxis gebraucht hat, weiß: Ein Sechser im Lotto ist realistischer. So ging es auch mir, als mein Gynäkologe genau in der Zeit im Urlaub war, während ich unter den schlimmsten Unterleibsschmerzen meines Lebens litt. Spoiler: Die Schmerzen kamen von einem Medikament gegen meine schwere Akne, das einfach geringer dosiert werden musste. Hätte ich das gewusst, wäre mir viel Leid erspart geblieben.

An diesem Tag hatte ich mit rund 20 Praxen telefoniert, keine einzige davon wollte mich als Notfallpatientin drannehmen. Vor einem Besuch im Krankenhaus hatte ich zu viel Angst, umso glücklicher war ich, als einer der Ärzte mich noch außerhalb der Öffnungszeiten behandeln konnte.

Angekommen in der Praxis war ich verwundert, denn außer dem Arzt und mir war niemand da. Ich nahm im Wartezimmer Platz, das mehr wie ein Wohnzimmer als eine Arztpraxis aussah. Das ignorierte ich jedoch, denn zu diesem Zeitpunkt war ich einfach nur überglücklich, endlich ärztliche Hilfe zu erhalten.

Doch schon im Vorgespräch wurde es unangenehm. Der Arzt sprach sehr zweideutig ("Reiten Sie? Frauen aus Ihrer Gegend reiten ja gerne.") und fragte ständig nach meiner Anzahl an Sexualpartnern. Hier ein kleiner Einwurf: Das müsst ihr im ärztlichen Gespräch niemals preisgeben. Weiß ich jetzt auch besser.

Aufgrund meiner Schmerzen ignorierte ich die Doppeldeutigkeit, denn schließlich ist dieser Mann Arzt und "will mir helfen". Als er dann während der Untersuchung eine alte, vergilbte Plastikflasche aus seinem Schrank holte und mir damit eine "längst nötige" Spülung verpassen wollte, sprang ich auf, zog mich an und brach die Behandlung ab.

Vom Arzt zum Täter und Stalker

Der Täter (ab hier finde ich die Bezeichnung treffender) wurde wütend, stellte sich mir in den Weg und hielt mich an der Schulter fest. Schließlich schulde ich ihm noch 50 Euro Behandlungskosten. Vor lauter Angst knallte ich ihm das Geld auf den Tisch, worauf er mich losließ und ich einfach nur noch nach Hause rannte.

Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, das Schlimmste sei vorbei. Doch es folgten Monate der Angst: ich wurde mit SMS, Anrufen und auch unfrankierten Briefen bombardiert, die ich in meinem Briefkasten fand.

Weder die Polizei, noch die zuständige Ärztekammer wollte mir helfen, denn "mir sei doch nichts passiert". Erst durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundeslandes hatte ich die Möglichkeit, rechtliche Schritte vor der Gleichbehandlungskommission einzuleiten.

Die sexuelle Belästigung wurde vor der Kommission anerkannt und meine Angst, dass noch eine weitere Frau das erleiden muss, wurde besänftigt. Weiter ging dieser Prozess jedoch nicht: Der Arzt starb in der Woche, in der das Urteil verkündet wurde. Eine weitere Tat, die durch den Tod des Täters in Vergessenheit geraten ist.

Er krümmte mir doch nie ein Haar

Anonym

Lange habe ich mit mir gerungen, mich für diesen Text zu melden. Insgeheim weiß ich, dass es gerade wegen dieser Zweifel wichtig ist.

Wenn ich von meiner ersten Beziehung erzähle, fühlt es sich an wie eine stumpfe Aneinanderreihung der typischen Begriffe: Lovebombing, Gaslighting, Untreue, Kontrolle, emotionale Erpressung, Isolation, extreme Eifersucht, Ghosting. Es begann, als wir mit unseren zwölf Jahren quasi noch Kinder waren. Erst mit 17 schaffte ich es weg von ihm. Noch bis Mitte 20 plagten mich Albträume von ihm. "Du hast nur mich", "Du siehst nuttig aus", "Du bist so affig", "Alle fanden dich peinlich", höre ich ihn sagen.

Er driftete auf die kriminelle Bahn ab, hantierte mit Messern und Knarren vor meinen Augen. Einmal hätte er einen Typen, auf den er eifersüchtig war, fast abgestochen. (Hier der leider traurige Hinweis: Nein, mein Ex hat keinen Migrationshintergrund.) Nach der Trennung erfuhr ich, dass er nur als "Fotze" und "Hure" von mir sprach und herumerzählte, ich hätte mit lauter anderen Männern geschlafen.

Raus aus der Gewalt

Doch trotz der Wunden, die all das hinterlassen hat, beißen sich seine zierliche Gestalt und sein kindliches Gesicht in meinem Kopf mit den Worten "Täter" und "Gewalt". Außerdem hatte er mich ja geliebt, mir nie ein Haar gekrümmt, und ich hätte ihn verlassen können, redete ich mir lang ein.

Dass es aber nicht so einfach ist, zeigt auch die Geschichte meiner Mutter. Als ich noch klein war, betonte sie oft, sie würde niemals bei einem gewalttätigen Mann bleiben – erst recht nicht, wenn ich in Gefahr sei. Dann kam er, der Mann, der ausrastete, sie schubste, uns als "Schlampen" niederschrie und der mir letztlich Schläge androhte. Er tat es nie, doch ich lebte Monate in Angst, bis ich mit 18 auszog. Meine Mutter blieb.

Per definitionem war das, was ich erlebt habe, psychische Gewalt. Es als solche benennen zu können, brauchte dennoch Jahre. Es in diesem Text nun zu tun, ist ein erster Schritt.

Es ist doch eigentlich nichts passiert

Anika Bentley, Werkstudentin

Als ich von diesem Text gehört habe, habe ich mich gefreut. Betroffene von jeglicher Form von Gewalt sollten eine Stimme und damit Sichtbarkeit erhalten – damit wir den Mythos "alles nur Einzelfälle" endlich hinter uns lassen können.

Doch dann habe ich angefangen zu überlegen, welche Geschichte ich erzähle. Ob meine Erfahrungen überhaupt "ausreichen", um mich in die Geschichten meiner Kolleginnen einzureihen – oder ob mir dafür zu wenig passiert war.

Dabei habe ich viele Geschichten zu erzählen. Der beste Kumpel meines Exfreundes hat mich mal vor ein Auto geschubst, aber verfehlt. Mein Exfreund lachte. Mir war nichts passiert.

In Unis, Bars und im Privaten: Belästigung passiert überall

Ein anderer Exfreund war einige Monate beruflich unterwegs und verlangte währenddessen intime Fotos von mir. Als ich diese verweigerte, wurde er sauer. Bei unserem Wiedersehen redete er mir ein, dass ich es ihm schuldig sei, mit ihm zu schlafen. Schließlich willigte ich ein. Damals wusste ich noch nicht, dass das ein Übergriff war. Ich weinte in mein Kissen und dachte trotzdem, mir wäre nichts passiert.

Im Bachelorstudium meldete sich ein Dozent aus einem anderen Studiengang bei mir, der an der Uni als Fotograf arbeitete. Er meinte, er suche nach Models. Während unseres Austauschs wurde er komisch. Er wollte Fotos von meinen Beinen in Kniestrümpfen sehen. Als ich den Kontakt abbrach, erinnerte er mich an seinen Einfluss an der Uni. Ich habe nie etwas erzählt und dachte, ich hätte noch Glück gehabt – denn eigentlich war ja nichts passiert.

Als ich mal mit Freundinnen aus war, hat mir ein Fremder K.-o.-Tropfen verabreicht. Ich konnte noch in Schlangenlinien die Bar verlassen und mich in einer Seitenstraße verstecken. Dort lehnte ich stundenlang regungslos an der Hauswand. Als ich gefunden wurde, fehlte aus meiner Tasche Bargeld. Im Krankenhaus wurden keine Spuren von einem Übergriff gefunden. Mal wieder war – fast – nichts passiert.

Jetzt bin ich hier. Ich lebe noch und ich habe den Mut, über das Geschehene zu sprechen. Nur eins fehlt mir: die absolute Gewissheit, dass meine Erfahrungen und Gefühle dazu valide sind, wenn nie etwas wirklich Schlimmes passiert ist. Sonst hätte ich meine anfänglichen Zweifel nämlich nicht gehabt.

Aber Frauen sollten nicht erst tot sein müssen, damit ihnen zweifelsfrei ihre Gewalterfahrung anerkannt wird.

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