Wenn die Unikliniken in Nordrhein-Westfalen in den letzten Wochen überraschend leer waren, lag das nicht etwa an effizienter medizinischer Versorgung, sondern eher am Gegenteil. Die Arbeitssituation von Ärzten und Ärztinnen sowie Pflegepersonal ist schon seit einiger Zeit schlecht, die Kliniken so extrem unterversorgt, dass das medizinische Personal seit Wochen die Weiterarbeit verweigert.
Nun ist bereits die neunte Streikwoche angebrochen, doch weiterhin passiert: nichts. Es gebe kein Entgegenkommen von Seiten der Arbeitgeber und kein Zeichen der Politik, um die Arbeitsbedingungen für Mediziner und Medizinerinnen zu verbessern, kritisieren die Initiatoren.
"Wir haben ja extra ein 100-Tage-Ultimatum gestellt, damit wir nicht streiken müssen. Das hat man natürlich erfolgreich ausgesessen. Jetzt versucht man, den Druck an uns weiterzugeben", sagt Albert Nowak im Gespräch mit watson. Er ist Intensivpfleger an der Uniklinik Köln und engagiert sich bei der Protest-Initiative Notruf NRW. Eigentlich empfindet er seine Tätigkeit als "schönen Beruf". Doch so wie es derzeit läuft, kann es für ihn und viele andere nicht weitergehen.
Dementsprechend hoch ist auch die Quote der Aussteiger: "Viele verlassen nach fünf bis sieben Jahren schon den Beruf, weil sie merken, das packen sie nicht dauerhaft", sagt er im Gespräch mit watson. Dazu komme eine hohe Abbruchquote von bis zu 30 Prozent in den Ausbildungsgängen, "weil die Leute oft von Beginn an mit einer Überforderung konfrontiert werden."
Deshalb fordern die Streikenden im Tarifvertrag unter anderem eine bessere Betreuungsquote der Patienten:
Man sei in Wahrheit von einer "arbeitsbedingten Berufsflucht und weniger von einem Fachkräftemangel" betroffen, erklärt Nowak.
Da auch nach neun Wochen keine Einigung erzielt wurde, wurde nun am Montag, den 4. Juli 2022, das Schwarzbuch Krankenhaus veröffentlicht. Darin zu finden sind zahlreiche erschreckende Berichte, wie Menschen wegen Personalmangel und Profitgier starben. Ein paar Beispiele aus dem Schwarzbuch:
Eine Krankenschwester berichtet:
Eine Pflegekraft, die seit 42 Jahren im Krankenhaus arbeitet, erzählt:
Hier erzählt eine Hebamme aus dem Kreissaal:
Man liest aber nicht nur in den dramatischen Berichten des Schwarzbuchs, wie Patienten und Patientinnen wegen des Personalmangels in Gefahr geraten, auch das Klinikpersonal ist im Arbeitsalltag teils untragbaren Bedingungen ausgesetzt.
Eine 21-jährige Pflegerin erzählt uns im Folgenden ihre Erfahrungen aus dem Alltag in einer Uniklinik in Nordrhein-Westfalen:
"Es war die erste Woche meiner Ausbildung. Ich war beim Frühdienst und bei der Übergabe wurden vier Patienten an mich übergeben, ich sollte also Dokumentationen, administrative Aufgaben und die Patienten selbst übernehmen. Eine richtige Einarbeitung auf der Station habe ich nicht erhalten.
Die anderen Pflegekräfte versuchten ihr Bestes, um meine Fragen zu beantworten, doch auch die mussten ja viele Patienten versorgen und natürlich ihre eigene Arbeit richtig durchführen. Deshalb können sie natürlich nicht gleichzeitig auch noch Auszubildende anleitend begleiten.
Dann wurde mir gleich ein Zimmer mit zwei älteren Patienten zugeteilt: Ich bin am Morgen auch schon mit einem unguten Gefühl in das Zimmer gegangen, denn in den letzten Tagen war ich mehrfach betroffen von sexistischen Aussagen und ebenso wurde ich häufig 'zufällig' angefasst. Das waren Aussagen wie 'Mach die Maske ab, ich will dein Lächeln sehen', 'Hast du einen Freund' und 'Von dir werde ich so gerne gepflegt'. Der Höhepunkt dieser Aussagen war, er wolle nur von der jungen, blonden Auszubildenden geduscht werden.
Mein Unwohlsein, in dieses Zimmer zu gehen und besonders diesen Patienten beim Duschvorgang zu unterstützen, war bekannt. Ich erzählte von den Vorfällen der letzten Tage und habe gefragt, ob jemand beim Duschgang den Patienten übernehmen oder dableiben könnte. Und leider kam ein klares Nein zurück von den anderen Pflegekräften, die gerade so ihre Grundpflege bei den anderen Patienten durchführen könnten und keine Zeit für den Duschvorgang hatten.
Also habe ich dann als unerfahrene Auszubildende, weil ich nicht wusste, dass ich die Aufgabe auch ablehnen kann, diese Angelegenheit angenommen. Ich wurde trotz der Übergriffe alleine gelassen. Ich habe vor diesem Tag noch keinen Patienten selbstständig bei einem Duschgang begleitet und musste auch die nächsten Tage immer wieder in dieses Zimmer gehen.
Ich werde nicht weitermachen, wenn die Bedingungen in der Pflege nicht besser werden und ich merke auch jetzt in der Ausbildung, dass man das über Jahre hinweg nicht aushalten kann. Es gibt immer wieder Pflegekräfte, die einen Burnout erleiden oder die weinend auf der Station zusammenbrechen, weil sie einfach nicht mehr können.
Jeden Tag passieren so viele schlimme Dinge auf den Stationen und in den Krankenhäusern, Patienten werden gefährdet und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können einfach nicht mehr.
Patienten nässen sich ein, weil keiner sie wegen Zeitmangel auf die Toilette begleiten kann. Notfälle werden nicht bemerkt, weil wir viel zu viele Patienten versorgen müssen. Dabei kommen täglich Patienten zu Schaden oder sterben. Es passiert täglich, dass wir Menschen haben, die über Stunden in ihrem Bett liegen und Schmerzen haben, weil wir einfach keine Zeit haben, um Schmerzmittel zu bringen.
Es wird Zeit, der Öffentlichkeit einfach mal in diesen Berichten klar und deutlich zu machen, dass wir jetzt mehr Personal brauchen, um so etwas nicht mehr zuzulassen. Der Arbeitgeber kommt uns in vielen Kernpunkten nicht entgegen. Und das braucht natürlich auch den Druck der Öffentlichkeit."