Angst vor Nadeln hat wohl jedes Kind. Wenn man auch sonst kaum Erinnerungen an die Kindheit hat – die Impfvisiten beim Kinderarzt haben sich meist mit einer Angst eingebrannt, die auch die Aussicht auf ein buntes Pflaster und Lollis nicht abmildern konnte. Die meisten Menschen überwinden diese Panik beim Anblick von Spritzen im Laufe ihres Lebens glücklicherweise.
Doch bei manchen wird diese Angst zu einer regelrechten Phobie und so schlimm, dass keine Impfung oder Operation mehr möglich ist. Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie (MPI) geht von 20 Prozent Kindern und Jugendlichen aus, die an einer Spritzenphobie leiden. Über die gesamte Lebensspanne beträgt die Zahl der Betroffenen im Erwachsenenalter circa drei Prozent, da die Erkrankung im höheren Alter deutlich absinkt.
Nicht nur, aber gerade angesichts der Corona-Pandemie wird diese Phobie zum lebensbedrohlichen Problem. Das MPI bietet deshalb ein Kurzprogramm zur Behandlung an. In nur sechs Sitzungen sollen mit einer "In vivo Exposition"-Therapie die Patienten und Patientinnen an das Problem herangeführt werden. Das bedeutet eine schrittweise und betreute Heranführung und Konfrontation an das angstmachende Ereignis.
Zunächst sehen Betroffene gemeinsam mit Therapeuten Bilder und Filme der Situation an, bis sie so weit sind, eine Spritze zu erhalten, beziehungsweise gepikst zu werden. Es gibt sogar schon Methoden, bei denen Virtual Reality eingesetzt und eine Spritze imitiert wird. Der Therapeut oder die Therapeutin imitiert das Einstechen der Spritze dabei zusätzlich mit einer Gabel.
Hat man nicht mehr genug Zeit für eine Therapie vor dem Impftermin oder einer Operation, empfiehlt der Psychologe und Experte für Angststörungen Professor Borwin Bandelow in einem Interview mit dem Bundesministerium für Gesundheit: "Von seiner Ärztin oder seinem Arzt auch ein Beruhigungsmittel verschreiben lassen." Er selbst habe seinen Patientinnen und Patienten auch stets empfohlen, an etwas anderes zu denken, zum Beispiel an eine schöne Sommerinsel. Die allermeisten hätten die Impfung dann nicht einmal gemerkt.
Dass die Angst vor der Nadel ein verbreitetes Problem ist, zeigt die hohe Nachfrage an dem Programm für Nadelphobiker am Max-Planck-Institut: "Seitdem auch jüngere Generationen geimpft werden, haben die Anfragen zugenommen – vorwiegend Patienten und Patientinnen zwischen 20 und 35 Jahren zeigen Interesse", sagt die Psychiaterin Angelika Erhardt, Leiterin des Programms und der Ambulanz am MPI, gegenüber watson. Sie erhielten auch viele Anfragen von Betroffenen unter 18 Jahren, so dass Erhardt auch hier von einem hohen Bedarf ausgeht. Doch am Max-Planck-Institut werden bisher nur Erwachsene mit Nadelphobie behandelt.
Eine Therapie für Kinder, die ja besonders oft von einer Nadelphobie betroffen sind, bietet beispielsweise das Haunersche Kinderspital in München an. Hier wird eine medizinische Hypnose angewendet: Mit Gedankenkraft ziehen Kinder einen imaginären Zauberhandschuh an, der sie den Einstich nicht spüren lässt. Im Zustand der Trance können "störende Reize, wie zum Beispiel Angst und Schmerz leichter ausgeblendet werden", sagt das Hauner-Kinder-Schmerz-Team zum "BR".
Die Angst vor Nadeln wird oft belächelt und nicht ernst genommen – zu unrecht: "Das ist eine Erkrankung. Wir bewegen uns nicht im Rahmen von ein bisschen Angst vor einer Spritze", erklärt die Psychiaterin Angelika Erhardt gegenüber watson. "Die Ängste können so stark sein, dass Betroffene notwendige medizinische Eingriffe oder auch Vorsorgemaßnahmen nur unter sehr hoher Belastung oder gar nicht wahrnehmen – womöglich mit negativen Folgen für ihre Gesundheit."
Auch die Wissenschaft nimmt diese Angst ernst: So zählt die Spritzenphobie als "spezifische Phobie" in die Gruppe der Blut- und Verletzungsphobien. Unter diesem Oberbegriff findet sich die Erkrankung auch in der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme).
Glücklicherweise ist die Nadelphobie heilbar. Das Programm am Max-Planck-Institut für Psychologie, das seit Mai 2021 angeboten wird, ist erfolgsversprechend: Mindestens zwei Drittel der Teilnehmer und Teilnehmerinnen können nach dem Programm eine Impfung oder Blutabnahme durchführen lassen. "Sie haben dann vielleicht trotzdem noch Angst vor Spritzen, wissen aber, wie sie damit umgehen", sagt Erhardt.
Eine Blut-, Spritzen-, oder Verletzungsphobie entwickelt sich meist bereits in der Kindheit und beeinträchtigt die Betroffenen, wenn sie nicht behandelt wird, das gesamte Leben. Negative Erfahrungen mit Nadelstichen oder Injektionen in der Kindheit können sich zu phobischen Ängsten im Erwachsenenalter entwickeln. "Dass sie im Laufe des Lebens zurückgehen, dürfte etwas mit wachsender Lebenserfahrung zu tun haben und mit Bewältigungsmechanismen, die man im Lauf des Lebens entwickelt", erklärt die Psychiaterin.
Denn je älter Menschen sind, desto häufiger sind sie in der Regel auch gezwungen, sich ärztlich behandeln zu lassen. "Dann müssen sie notgedrungen die Angst vor Spritzen überwinden."
Katrin aus Brandenburg ist eine der Betroffenen. Sie erzählt watson:
Die Ärzte hätten ihre Nadelphobie im wiedervereinten Deutschland aber glücklicherweise ernst genommen. "Im Impfzentrum habe ich offen darüber gesprochen und habe nichts gemerkt", sagt sie. Zum zweiten Termin ging Katrin deshalb sogar ohne Begleitung, doch es war eine große Überwindung für sie: "Natürlich konnte ich die ganze Nacht davor nicht schlafen und bin auch schweißgebadet im Impfzentrum angekommen." Doch die Impfärztin zeigte Verständnis und die Impfung sei dann gar nicht so schlimm gewesen.
Natürlich braucht nicht jeden Nadelphobie eine professionelle Behandlung. Einige Menschen wie Katrin und Martin schaffen es auch alleine, sich der angstauslösenden Situation zu stellen. Die direkte Konfrontation empfiehlt auch Angelika Erhardt: "Sind Ausprägung und Leidensdruck nicht zu groß, ist es hilfreich, sich aktiv mit der Situation auseinanderzusetzen und Strategien zur Beruhigung, beziehungsweise zum Umgang mit Angst und angstmachenden Gedanken zu entwickeln."
So macht es auch Jule, die seit frühester Kindheit an einer Nadelphobie leidet. "Ich habe Probleme mit Nadeln in Körpernähe, weil ich als Kind beim Impfen festgehalten wurde. Ich bin damals beim Blutabnehmen gern mal zusammengebrochen", erzählt sie watson. Auch heute noch hat sie Probleme mit Nadeln: "Ich bin Erstarrerin, halte die Luft an, bewege mich nicht und habe nasse Hände. Außerdem macht mich der Gedanke an eine Spritze Tage vorher schon verrückt."
Sie erzählt, dass die meisten Ärzte und Ärztinnen Verständnis dafür zeigen würden: "Die Corona Impfung kostete natürlich Überwindung, weil sie meine Phobie triggert." Trotzdem habe es für sie nie zur Debatte gestanden, sich nicht gegen impfen zu lassen. Stattdessen stellte sie sich ihrer Angst. "Dennoch fände ich es super, wenn der Impfstoff weiterentwickelt werden würde und es bei einem Pieks im Jahr bliebe", sagte sie.
Wer allerdings sehr stark unter seiner Angst leide, solle keinesfalls zögern, Hilfe zu suchen. Zum Beispiel dann, "wenn der Leidensdruck sehr groß ist und die Angst zu negativen psychischen oder körperlichen Konsequenzen führt, weil Betroffene Spritzen um jeden Preis vermeiden". Erhardt geht auch von einer Dunkelziffer der Menschen mit einer Blut-Spritzen-Phobie aus, die gerade im mittleren Alter erhöht ist. Denn in diesem Alter seien medizinische Behandlungen in der Regel selten nötig und die Betroffenen durch die Ängste weniger eingeschränkt. "Dennoch fände ich es super, wenn der Impfstoff weiterentwickelt werden würde und es bei einem Piks im Jahr bliebe."
In Österreich überlegt die Regierung derzeit sogar, Menschen mit Nadelphobie von der Impfpflicht auszuschließen. Doch Ärzte und Therapeuten halten dies nicht für notwendig. Vielleicht rettet die Nadelphobiker am Ende, wie so oft, die Wissenschaft: Das Max-Planck-Institut entwickelt derzeit ein Impfverfahren gegen SARS-CoV2, das ohne Nadeln auskommt. In den kommenden Jahren soll so ein Impfstofftransport über die Haut Immunität und Schutz gegen das Virus aufbauen.
Denn in der Haut ist die Dichte der Immunzellen sogar höher als in Muskeln: Hier befinden sich die sogenannten Langerhans-Zellen, die die antivirale Antwort im Körper aktivieren und koordinieren. Dieses System soll es ermöglichen, Impfstoffe direkt auf die Haut aufzutragen oder mit Mikronadeln zu injizieren. Wann ein solcher Impfstoff auf den Markt kommt, ist aber noch ungewiss.