Man sitzt mit der Familie beim gemeinsamen Essen, eigentlich ist alles gut. Bis sich die Gespräche in eine Richtung entwickeln, bei der die Stimmung plötzlich kippt.
Viele haben Situationen wie diese selbst erlebt mit Verwandten oder im Freundeskreis. Besonders leicht kann es dazu kommen, wenn es um Politik geht, auch Corona war ein Thema, an dem Freundschaften zerbrochen sind: Auf einmal ist da nur noch Unverständnis über die andere Person. Aber ist es Feigheit, sich der Konfrontation zu entziehen oder einfach nur der Wunsch, den Familienfrieden zu bewahren?
Michael Nast, bin ich zu feige, wenn ich mit der Familie nicht über Politik diskutiere?
Meine Sehnsucht war es immer, anzukommen in einem Leben, in dem ich mich wohl fühle. In der Michael-Nast-Blase gewissermaßen. Einer Blase, die sich aus Menschen, Philosophien, Wohnungseinrichtungen und Ernährungsweisen zusammensetzt, die sich mit meinem Selbstverständnis decken. In der es zwar unterschiedliche Meinungen gibt, in der man auch an sich und anderen zweifelt, in der Diskussionen und Streitigkeiten existieren, die allerdings vor dem Hintergrund eines Wertesystems ausgetragen werden, das wir teilen.
Meine Eltern machen seit einigen Jahren eine Erfahrung, mir der sie immer noch lernen, umzugehen. In ihrer Blase tauchen immer mehr AfD-Wähler:innen auf. Die Sympathie für die Partei wird ganz selbstverständlich in Nebensätzen fallengelassen. Als wären meine Eltern derselben Auffassung. Es wird vorausgesetzt. Ihre Art, damit umzugehen, ist es, solche Themen auszuklammern. "Keine Krankheiten, keine Politik", sagt meine Mutter und legt damit den Gesprächsrahmen fest.
Ich könnte das nicht. Ich fühle mich nicht in der Lage, eine Person von ihren Ansichten zu trennen.
Seit einigen Jahren schwappen immer mehr Meinungen in meine Blase, die Menschen, die ich zu kennen glaubte, zu Leuten mit mir so fernen Ansichten machen, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte: Sie offenbaren eine neue Seite, die sie zu Fremden macht. Ihre Stimmen sind mir vertraut, wir sprechen auch dieselbe Sprache, aber ich verstehe sie nicht mehr.
Toleranz ist ein interessantes Wort. Heutzutage ist es ja positiv besetzt. Wer tolerant ist, ist weltoffen, akzeptiert andere und erkennt sie an. "Tolerare" in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung ist mir allerdings näher. Es bedeutet ertragen, aushalten, erdulden. Wenn ich jemanden toleriere, ertrage ich diese Person. Ich leide unter ihr, aber halte sie aus. Irgendwann ist jedoch eine Grenze erreicht.
Ich mag Diskussionen, finde aber, dass sie auf demselben ethischen Fundament geführt werden sollten. Einen humanistischen Fundament. Ich habe mit sehr konservativen Leuten über die verschiedensten Themen debattiert. Aber so sehr sich unsere Ansichten auch unterschieden, lagen unsere Wertesysteme jedoch immer noch soweit beieinander, dass wir eine gemeinsame Basis hatten. Wir bewegten uns auf einem Fundament, auf dem wir unsere Diskurse führen konnten. So gegensätzlich unsere Auffassungen auch waren und heute noch sind, empfinde ich Diskussionen mit ihnen als Bereicherung meiner Blase.
Wenn dieses Fundament allerdings fehlt, habe ich keinen Redebedarf mehr. Dann verteidige ich meine Blase. Gegen Egoismus auf Kosten anderer, gegen rechtsradikale und rassistische Gedanken und gegen Einfältigkeit, die sich mit Fanatismus mischt. Dagegen werde ich sie immer verteidigen. Auch, wenn die Gefahr von Familienmitgliedern ausgeht.
Was denkst du dazu? Siehst du es anders als Michael Nast oder stimmst du ihm zu?
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