Gerade zu Weihnachten zeigt Armut oft ihr hässlichstes Gesicht: Während die einen sich mit den Verwandten darin messen, wer die meisten und teuersten Geschenke für seine Liebsten kauft, können die anderen sich nicht einmal ein gescheites Weihnachtsessen leisten.
Um dem entgegenzuwirken, gibt es die Tafel: Bei etwa 1,65 Millionen Menschen in Deutschland wäre der Kühlschrank leer, gäbe es die Tafel nicht. Über 940 Tafeln in Deutschland versorgen bedürftige Menschen mit günstigen oder kostenlosen Lebensmitteln, die vom Einzelhandel gespendet wurden.
Die Tafel ist selbstverständlich nicht nur in der Weihnachtszeit, sondern das ganze Jahr über aktiv. Um die Feiertage herum ist sie allerdings besonderen Bedingungen ausgesetzt. Welche das sind, verrät Harald Prokosch im Gespräch mit watson: Im Interview berichtet der Berater in der Unternehmenskommunikation von seiner ehrenamtlichen Arbeit bei der Hamburger Tafel e.V. – und welchen Herausforderungen sich der Verein an Weihnachten stellt.
Watson: Herr Prokosch, Sie sind ehrenamtlicher Mitarbeiter bei der Tafel. Warum ausgerechnet da?
Harald Prokosch: Ich war vor ein paar Jahren auf der Hamburger Freiwilligenmesse Aktivoli, habe die Arbeit der Tafel dort in der Theorie kennengelernt, und wollte das spontan mal ausprobieren. Eigentlich wusste ich schon nach dem ersten Probeeinsatz: Das will ich machen!
Warum?
Die ehrenamtliche Arbeit dort ist eine ganz unmittelbare Form der Hilfe für bedürftige Menschen. Die Vorstellung, dass ein Teil der Gesellschaft in Überfluss lebt, während ein anderer fast nichts oder zu wenig hat, fand ich schon immer schlimm. Bei der Tafel sehe ich den Erfolg unserer Arbeit sofort, bei den Menschen, die ihr Überleben nur durch gespendete Lebensmittel sichern können.
Wie genau sieht ihre Arbeit bei der Tafel aus?
Ich bin meist als Fahrer eingesetzt und trete durchschnittlich zwei Mal pro Woche an. Das heißt, ich hole zusammen mit Kollegen gespendete Lebensmittel ab und liefere sie direkt an Ausgabestellen. Der Begriff Soziallogistiker trifft es ganz gut. Unsere Kunden treffe ich allerdings nur selten persönlich, weil wir die Lebensmittel mittags, vor Öffnung der Ausgabestellen, anliefern. Immerhin müssen die gespendeten Artikel auch noch ausgepackt und in Warengruppen sortiert werden, damit die Kunden später besser finden, was sie benötigen – ähnlich wie in einem Supermarkt.
Was brauchen die Ausgabestellen denn alles?
Manche brauchen mehr Konserven, weil ihre Kunden mit Frischware nicht viel anfangen können. Bei anderen Einrichtungen ist es genau anders herum. Oder es kommen auch Menschen, die zum Beispiel kein Schweinefleisch essen. Woanders wird Babynahrung benötigt, wenn viele Familien mit Kindern im Viertel sind. Oder Hygieneartikel, zum Beispiel in Einrichtungen für obdachlose Frauen. Schließlich verteilen wir beileibe nicht nur Lebensmittel. Die Spenden variieren jeden Tag ein wenig, morgens wissen wir nie so genau, was wir im Lauf des Tages bekommen.
Hat sich ihr Blick auf die Gesellschaft durch ihr Ehrenamt gewandelt?
Ja und nein. Ich habe einen tieferen Einblick in einen Teil der Gesellschaft bekommen, den ich ohne die Tafel sicher nicht hätte. Die etwas unkonkrete Aussage "Viele haben nicht genug zum Leben" bekommt durch die Arbeit für die Tafel ein Gesicht. Und natürlich lernt man als "Soziallogistiker" die Stadt intensiv kennen. Wir sehen die Realität!
Ist das nicht deprimierend?
Vielleicht erscheint einigen unsere Arbeit wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber viele Tropfen zusammen bilden irgendwann einen Fluss. In meinem Umfeld kenne ich niemanden, der nicht positiv auf dieses Ehrenamt reagiert. Wenn ich von meiner Arbeit erzähle, bringt das die Menschen zum Nachdenken, und vielleicht zündet auch das die Idee, selbst aktiv zu werden.
Wie ist das jetzt zur Weihnachtszeit – haben Sie da genügend Helfer?
Über die Weihnachtstage Freiwillige zu bekommen, ist nicht so einfach. Weihnachten ist schließlich ein Familienfest, das auch die Mitarbeiter der Tafel mit ihren Angehörigen verbringen möchten. Immerhin sind wir, bis auf ganz wenige Tage, das ganze Jahr über aktiv. Außerdem sind viele Ausgabestellen, die ja auch meist mit ehrenamtlichen Helfern arbeiten, an den Feiertagen geschlossen. Generell ist die Tafel an Tagen wie Weihnachten aber ganz anderen Herausforderungen ausgesetzt, als einem Mangel von freiwilligen Helfern.
Und zwar welchen?
Im Einzelhandel herrscht an den einkaufsstarken Feiertagen hoher Duck. Und die Mitarbeiter unserer Spender müssen schließlich die Waren auch erst vorsortieren und prüfen, was an die Tafel abgegeben wird. Sammeln und verteilen klappt nur, wenn die Logistik ähnlich reibungslos läuft, wie unter dem Jahr.
Welche Lebensmittel werden dann vor allem gespendet?
Das geht quer durchs ganze Sortiment. Der Klassiker: Schokolade, teilweise ganze Paletten. Nach Weihnachten oder Ostern will keine mehr Schoko-Nikoläuse oder Hasen kaufen, obwohl alles einwandfreie Ware ist. Unsere Kunden können sich in der Regel keinen Fünf-Euro-Weihnachtsmann aus Edelschokolade leisten.
An dieser Stelle können wir als ein für alle Mal mit dem Mythos aufräumen: Die Schoko-Weihnachtsmänner werden nicht eingeschmolzen und zu Osterhasen verarbeitet?
Nein, so läuft das nicht – und auch nicht andersherum mit den Osterhasen, die werden ebenfalls nicht eingeschmolzen. Feiertags-Süßigkeiten werden meist zum Sonderpreis verkauft – oder landen eben bei uns. Und zwar in geradezu unfassbaren Mengen. Generell staunt jeder, der zum ersten Mal mit uns fährt, über die Mengen an Lebensmitteln, die nicht mehr verkauft werden, obwohl sie einwandfrei genießbar sind. Weihnachten bedeutet für viele Menschen einen finanziellen Kraftakt.
Merken Sie, dass zur Weihnachtszeit mehr Menschen zur Tafel gehen?
Nein, nicht unbedingt. Aber generell nimmt die Anzahl der Tafel-Kunden in den letzten Jahren stetig zu, das spürt man.
Wer kommt denn zur Tafel?
Sie würden sich wundern: Es kommen Menschen jeden Alters, jeder Herkunft und fast jeder sozialen Gruppe. Vielen Menschen sieht man überhaupt nicht an, dass sie bedürftig sind. Wer an die Tafel denkt, hat oft das Bild von Obdachlosen im Kopf – das stimmt schon lange nicht mehr.
Gibt es etwas, was Sie sich für die Tafel wünschen – was sich bis zum nächsten Weihnachten ändern sollte?
Kennen Sie den Slogan: Nur das WIR zählt? Ich würde mir wünschen, dass die Menschen mehr Sinn dafür entwickeln, weniger an sich selbst denken. Und dass sie verstehen, jeder Tropfen bewirkt in der Summe etwas. Wer selbst kein Ehrenamt ausüben kann, könnte zum Beispiel auch spenden. Manchmal reicht schon ein einziger Euro, um zu helfen.