Ein halbes Kilo Plastikmüll kann die Umwelt enorm verschmutzen. Wenn Plastikflaschen, Tüten und Verpackungen am Straßenrand liegen, am Strand oder im Wald. Deutlich kompakter ist so ein halbes Kilo Müll, wenn man es in eine einzige Plastikflasche stopft – und so gleichzeitig einen Baustein aus Müll erschafft: einen Ecobrick. Zusammen mit Lehm und tausenden anderen Ecobricks kann daraus ein ganzes Haus entstehen.
Die Koblenzer Hilfsorganisation Project Wings will bis Ende des kommenden Jahres sogar ein ganzes Dorf aus zu Ecobricks recyceltem Plastikmüll bauen – mit Schule, Bibliothek, Restaurant, Hostels und Minigolfanlage. Mitten im Dschungel, auf der indonesischen Insel Sumatra, soll das größte Recyclingdorf der Welt entstehen.
Plastik gibt es in Indonesien im Überfluss. Das Land ist nach China der größte Plastikproduzent der Welt. Ob am Straßenrand, im Dschungel oder in den Flüssen – fast überall liegen Plastiktüten und Plastikflaschen. "Zudem schicken 22 Staaten ihren Plastikmüll nach Indonesien, dazu gehört auch Deutschland", sagt Marc Helwing, der Geschäftsführer von Project Wings, im Interview mit watson. Der Plastikmüll werde in Deponien im Regenwald oder in Flüssen gelagert oder am Straßenrand verbrannt.
Gleichzeitig ist die Artenvielfalt auf Sumatra enorm: Die letzten Orang-Utans leben dort neben Sumatra-Tigern und anderen bedrohten Arten. "Es ist super wichtig, dass der Regenwald dort nicht weiter gerodet wird", sagt Helwing. Er und seine Mitstreiter wollen deshalb mit den Menschen vor Ort ein Dorf erschaffen, in dem Menschen und Natur in Einklang leben können. Das Ziel: die Natur von Abfall befreien und die Region gleichzeitig durch Bildungs- und Kulturangebote aufwerten.
Die Verwendung von Ecobricks ist dabei nicht völlig neu, sporadisch finden sie in Südostasien immer wieder Anwendung. Das Prinzip ist simpel: Plastiktüten und sonstiger leichter Plastikmüll werden mit einem Stock in eine Plastikflasche gestopft, bis diese zu einem festen Baustein geworden ist. Der wird dann zum Füll- und Baustoff.
"Wir haben das System verfeinert und weiterentwickelt", sagt Helwing. Bauingenieur David Heitmann, der jetzt für Project Wings auf Sumatra vor Ort für den Bau des Dorfs verantwortlich ist, schrieb seine Bachelorarbeit an der Uni Münster über den Bau von Häusern mit Ecobricks. Auch mit der Hochschule Koblenz arbeitet "Project Wings" zusammen. "Wir haben unseren eigenen Lehm entwickelt, wir wollten eine perfekte Bauweise finden, die für Gesundheit und Natur unschädlich ist", sagt Marc Helwing.
Hergestellt werden die Ecobricks von Einheimischen, an verschiedenen Annahmestellen können sie diese für 5000 Rupiah – umgerechnet 30 Cent – an das Projekt verkaufen. Ein Ecobrick, rechnet Project Wings vor, das ist in Indonesien ein halbes Kilo Plastikmüll, das nicht mehr in der Natur liegt – und es hat den Gegenwert einer warmen Mahlzeit für denjenigen, der es aufsammelt.
Aber wie kommt es überhaupt dazu, dass acht Koblenzer auf Sumatra ein Dorf aus Plastikmüll bauen? Alles fängt damit an, dass Helwing und die anderen Gründer von Project Wings in deutschen Fußgängerzonen Spenden für die großen Hilfsorganisationen sammeln. Dabei stellten sie fest: Immer weniger Privatpersonen spenden Geld für wohltätige Zwecke. "Von 2005 bis heute gingen ein Drittel aller Privatförderer verloren", sagt Helwing.
Er will wissen, warum das so ist – und befasst sich in seiner Bachelorarbeit mit den Gründen für mangelnde Spendenbereitschaft. Ein Grund, der dabei immer wieder genannt wird: Die Menschen ärgern sich, wenn ihre Spenden nicht zu 100 Prozent in den Projekten ankommen, dass sie keinen direkten Bezug zu diesen haben. "Also haben wir gedacht: Lasst uns doch eine eigene Organisation gründen und es besser machen", sagt Helwing.
Mitgründer Sebastian Keilholz lernt zu dieser Zeit in Indonesien einen Lehrer kennen, der mit seiner Schulklasse Plastik sammelt und daraus Ecobricks herstellt. Er überlegt, ein Hostel aus den recycelten Bausteinen zu bauen. "Als wir von der Idee gehört haben, haben wir gesagt: Lass uns doch anstelle des Hostels gleich ein ganzes Dorf bauen", erzählt Helwing.
Das war im März 2019. Mittlerweile hat Project Wings 60.000 Ecobricks aufgekauft, ein erstes Gebäude auf Sumatra steht: Ein Schulgebäude, in dem Schulklassen sich in puncto Digitalisierung weiterbilden und Excel, Powerpoint oder Word lernen können. Ende 2021, so das Ziel, sollen über 250 Millionen Tonnen Plastik in etwa 300.000 Ecobricks zu einem ganzen Dorf verbaut sein.
Nur: Was braucht so ein Recyclingdorf, was wertet die Region am meisten auf? Die Gründer setzten sich zur Beantwortung dieser Frage mit denjenigen zusammen, die das am besten wissen: die Bevölkerung vor Ort. Marc Helwing sagt:
Eigentlich, sagt Helwing, ist das ganze Projekt nicht nur mit den Einheimischen entstanden, sondern eher von den Einheimischen. Gemeinsam wurden die Pläne für das Recyclingdorf entwickelt: Neben einem Green Education Center, in dem Umwelt- und Naturschutz vermittelt werden sollen, gibt es eine Müllabfuhr. Auch eine Bibliothek, ein Fußball- und Basketballplatz, ein Unverpacktladen, eine Culture Kitchen und ein veganes Restaurant sollen entstehen. Insgesamt sollen so vor Ort 100 Arbeitsplätze geschaffen werden, bis zu 1000 sollen es mit Partnerprojekten wie Aufforstungsprogrammen für den Regenwald werden.
Die Corona-Pandemie hat dem Bauvorhaben bislang keinen Abbruch getan – im Gegenteil. "Wir haben sogar die Arbeitsplätze verdoppelt und versucht, die Leute mit aufzufangen, die durch den fehlenden Tourismus ihren Job verloren haben", sagt Helwing. "Der Regenwald ist auch ein finanzieller Background. Die Leute wissen: Jeder Orang-Utan der stirbt, zieht weniger Menschen an." Auch die Corona-Pandemie ist deshalb dramatisch.
Produkte, die sonst vor Ort an Touristen verkauft werden, seien deshalb aufgekauft worden, um sie über einen Online-Marktplatz zu vertreiben. So will Project Wings auch erreichen, was sich die Mitglieder bei der Gründung im vergangenen Jahr zum Ziel gesetzt haben: 100 Prozent der privaten Spenden nach Sumatra weiterzugeben.
"Es ist einfach mies, wenn ein Student im Monat 20 Euro abzwackt und dann am Ende nur 15 Euro im Projekt ankommen", sagt Marc Helwing. Kosten für Marketing, die Ingenieure oder Transportkosten würden stattdessen etwa über Spenden von Unternehmen gedeckt, die beispielsweise die Gesamtkosten für den Bau eines ganzen Gebäudes übernehmen.
In eineinhalb Jahren soll sich zeigen, was aus den Spenden entstanden ist. Der Plastikmüll am Straßenrand und im Urwald dürfte auf jeden Fall jetzt schon deutlich abgenommen haben.