Nachhaltigkeit
Analyse

Geht die Letzte Generation zu weit? Deutliche Einschätzung zur Klimabewegung

Die Straßenblockaden und Aktionen der Letzten Generation sind umstritten.
Die Straßenblockaden und Aktionen der Letzten Generation sind umstritten. Bild: IMAGO / aal.photo
Analyse

Geht die Letzte Generation zu weit? Protestforscher ordnet Kritik an Klimabewegung ein

19.04.2023, 12:0219.04.2023, 12:24
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Die Letzte Generation sorgt seit Wochen für Schlagzeilen. Die "Klima-Kleber", wie zahlreiche Medien die Aktivist:innen getauft haben, blockieren Straßen, bringen Autofahrer:innen und Politiker:innen gleichermaßen gegen sich auf.

Die Aktivist:innen treiben immer mehr Menschen zur Weißglut.

Am vergangenen Mittwoch schließlich erklärte erstmals auch Fridays-for-Future-Sprecherin Annika Rittmann Unmut über die Aktionen der Letzten Generation – trotz der eigentlichen Übereinstimmung darüber, dass dringend etwas gegen die Klimakrise unternommen werden müsse:

"Ich finde es allerdings nachvollziehbar, wenn Menschen die Aktionen der Letzten Generation kritisieren und die Protestform hinterfragen. Die Klimakrise braucht gesamtgesellschaftliche Lösungen und die finden und erstreiten wir nur gemeinsam – und nicht, indem wir Menschen im Alltag gegeneinander aufbringen."

Doch genau das passiert derzeit, ist die Wahrnehmung vieler.

Die Hauptstadt soll lahmgelegt werden.

Berlin steht still. Das zumindest ist das Ziel der Aktivist:innen.

03.02.2023, Nordrhein-Westfalen, Köln: Aktivisten der Umweltgruppe «Letzte Generation» blockieren den Verkehr auf der Universitätsstraße indem sie ihre Hände auf der Fahrbahn festkleben. Mitglieder de ...
Stillstand: Aktivist:innen der Letzten Generation blockieren Straßen, um Aufmerksamkeit zu erlangen.Bild: dpa / Ann-Marie Utz

Die Proteste der Letzten Generation würden zu weit gehen.

Der große Verlierer: Die Klimakrise.

Oder etwa nicht?

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Klimaproteste erhöhen Aufmerksamkeit für Klimakrise

Der Protestforscher Jannis Grimm von der Freien Universität Berlin sieht das anders. Man müsse zwischen dem Anspruch der Protestbewegung und dem Framing unterscheiden. "Berlin lahmzulegen" hätte Mobilisierungscharakter. Gegenüber watson sagt er:

"Man versucht dadurch, eine Erwartungshaltung aufzubauen und sich als Gesprächsthema in die Presse zu bringen und dadurch potenzielle Sympathisant*innen dazu zu bringen, an solchen Aktionen teilzunehmen. Gleichzeitig will man ein gewisses Drohpotenzial aufbauen. Ob das dann tatsächlich gelingt, ist eine ganz andere Frage."

Selbst bei Massendemonstrationen mit Zehntausenden Menschen sei das nicht möglich. "Es wird vermutlich auch der Letzten Generation nicht gelingen, Berlin lahmzulegen. Nur punktuell – und das auch nur für einen sehr kurzen Zeitraum."

September 23, 2022, Munich, Bavaria, Germany: Joining at least 110 other cities worldwide, thousands assembled at Koenigsplatz in Munich, Germany for the eleventh Global Climate Strike to demand clima ...
Selbst Massenproteste wie jene von Fridays for Future legen Städte nicht lahm, höchstens punktuell.Bild: www.imago-images.de / imago images

Das bedeute aber nicht, dass die Aktionen nicht trotzdem von Erfolg gekrönt sein können. "Es zählt ja auch zum Erfolg dazu, wenn man es schafft, sich weiter in der Debatte zu halten und den Druck konstant hochzuhalten."

Narrativ der gespaltenen Gesellschaft sollte nicht künstlich verstärkt werden

Und dass Proteste und Aktionen von Klimaaktivist:innen Einfluss auf die Wahrnehmung der Klimakrise in der Bevölkerung haben, hat erst kürzlich eine Studie nachgewiesen. Dafür untersuchten Forschende in Gebieten von Großbritannien, in denen Extinction Rebellion in den letzten Jahren aktiv war, ob die Sympathien der Bevölkerung vor Ort für eine progressivere Klimapolitik zugenommen hatte. Die Antwort darauf war eindeutig: Ja. "Gleichzeitig gab es aber keine Zunahme der Sympathie für die Gruppe selbst", erklärt Grimm.

Die Studie verdeutlicht: Auch wenn die Menschen nicht mit gewissen Protestaktionen übereinstimmen, können diese dazu beitragen, die Wahrnehmung der Menschen zu verändern – und so eine progressivere Klimapolitik herbeiführen.

Grimm erklärt daher:

"Ich bin der Ansicht, man sollte das Narrativ von der gespaltenen Gesellschaft nicht künstlich verstärken. Denn dieses ist letztlich oft auch ein Kampfbegriff, der verwendet wird, um zivilgesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen ihre Legitimität abzusprechen, nach dem Motto: Wer die Gesellschaft spaltet, der hat seinen moralischen Anspruch oder sogar sein Recht auf Protest verwirkt. Solche Narrative halte ich aus demokratietheoretischer Sicht für äußerst fragwürdig."

Doch wieso bleibt es bei dieser immergleichen Erzählung?

David gegen Goliath.

David gegen Goliath: Aktivist:innen gegen genervte Bürger:innen.
David gegen Goliath: Aktivist:innen gegen genervte Bürger:innen.bild: letzte generation

Progressiv gegen konservativ.

"Ich sehe keinerlei wissenschaftlich haltbare Indizien dafür, dass die Gesellschaft hinsichtlich des Klimaschutzes selbst gespalten ist", widerspricht Grimm. Im Gegenteil: Zahlreiche Studien zeigten, dass ein Großteil der Gesellschaft hinter einer progressiven Klimapolitik stehe.

"Jeder ist für Windkraft. Aber wenn es darum geht, das Windrad auf der Wiese hinter dem eigenen Haus aufzustellen, herrscht oft starke Ablehnung."
Protestforscher Jannis Grimm

Trotzdem sehe Grimm deutliche Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft uneins darüber ist, wie sie die Aktionen der Letzten Generation bewerten soll. Das aber sei nicht weiter ungewöhnlich. "Das gilt für sehr viele Gruppen, die provokant auftreten oder mit eher disruptiven Repertoires arbeiten und eher ungewöhnliche oder auch störende Taktiken anwenden. Auch damals während der Proteste gegen die Castortransporte war das beispielsweise so."

Für mehr Klimaschutz – aber nur, solange es nicht das eigene Leben betrifft

Stattdessen stell Grimm ein Phänomen fest, das sich in nahezu allen Politikfeldern finden lässt: Menschen finden sich grundsätzlich besser mit abstrakteren Politik-Entscheidungen ab, als mit solchen, die ihre eigene Lebenswirklichkeit betreffen. Für diese Verhaltensweise gibt es sogar eine eigene Bezeichnung: "Nimby" – abgeleitet von dem englischen Akronym "Not in my backyard".

Wind turbines at RWE's Scroby Sands Wind Farm, are pictured on th horizon beyond residential houses, in Great Yarmouth, eastern England, on February 15, 2023. (Photo by Daniel LEAL / AFP) (Photo  ...
Windenergie ist toll – solange die Windräder nicht direkt hinter dem eigenen Garten stehen. Bild: AFP / DANIEL LEAL

Einfach gesagt bedeutet das zum Beispiel: "Jeder ist für Windkraft. Aber wenn es darum geht, das Windrad auf der Wiese hinter dem eigenen Haus aufzustellen, dann herrscht oft starke Ablehnung."

Die Menschen sind also prinzipiell für mehr Klimaschutz, die Einschränkung fossiler Brennstoffe und das Senken des Fleischkonsums. Allerdings nur so lange, wie diese Einschränkungen sie nicht persönlich treffen: Weil sie also plötzlich auf ihren Verbrenner verzichten sollen, die Energiepreise steigen und die Preise für Steak und Hühnchen ebenfalls.

Aktionen der Letzten Generation soll Menschen "wachrütteln"

"So lässt sich auch die Ablehnung gegen die Aktionen der Letzten Generation erklären – die Leute sehen sich plötzlich in ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit, zum Beispiel als Autofahrer*innen, betroffen und angegriffen." Doch genau diese Irritation wolle die Letzte Generation auch bei den Menschen hervorrufen, "weil sie die Leute ja sprichwörtlich 'wachrütteln' soll".

Und für diese Aktionen des zivilen Ungehorsams nehme die Gruppe explizit damit einhergehende Strafen in Kauf. Grimm erläutert das wie folgt:

"Die Aktivist*innen entziehen sich ja nicht der Verfolgung, sondern akzeptieren ihre Strafen vor Gericht. Bei den Aktionen geht es also nicht um die Ablehnung des Systems, sie sind nicht anti-systemisch. Es geht darum, neue Impulse in das demokratische System zu tragen und zu sagen: 'Hey, diese Thematik wird nicht ausreichend behandelt und das muss sich ganz schnell ändern.'"

Doch anstatt dass über die Ziele der Aktivist:innen gesprochen werde, drehe sich die Debatte bei der Letzten Generation bis heute um Fragen rund um die Form der Proteste: Ist das zu radikal? Ist die Letzte Generation eine Klima-RAF? Sind sie wie die Taliban, weil sie Kunstwerke beschmieren?

Aktivist:innen wie Anja Windl, bekannt als Klima-Shakira, spalten die Gesellschaft.
Aktivist:innen wie Anja Windl, bekannt als Klima-Shakira, spalten die Gesellschaft.bild: privat

"Es ging viel zu oft darum, was Protest eigentlich darf, anstatt darum, was die Menschen eigentlich dazu treibt, solch hohe persönliche Risiken auf sich zu nehmen und sich auf der Straße festzukleben", betont Grimm. Zumal die Aktivist:innen dies nicht nur für ihr eigenes Wohl, sondern für die Allgemeinheit täten. Grimm ergänzt:

"Die Letzte Generation wurde sehr schnell als fatalistisch abgetan. Als eine Gruppe an Menschen, die keine Hoffnung mehr hat, als Verzweiflungstäter*innen. Anstatt dass die Leute mal sehen, was für ein unglaublicher Mut und Optimismus darin steckt, etwas Neues zu versuchen, sich für Veränderung einzusetzen, nicht aufzugeben oder den Kopf in den Sand zu stecken."
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