Die Letzte Generation sorgt seit Wochen für Schlagzeilen. Die "Klima-Kleber", wie zahlreiche Medien die Aktivist:innen getauft haben, blockieren Straßen, bringen Autofahrer:innen und Politiker:innen gleichermaßen gegen sich auf.
Die Aktivist:innen treiben immer mehr Menschen zur Weißglut.
Am vergangenen Mittwoch schließlich erklärte erstmals auch Fridays-for-Future-Sprecherin Annika Rittmann Unmut über die Aktionen der Letzten Generation – trotz der eigentlichen Übereinstimmung darüber, dass dringend etwas gegen die Klimakrise unternommen werden müsse:
Doch genau das passiert derzeit, ist die Wahrnehmung vieler.
Die Hauptstadt soll lahmgelegt werden.
Berlin steht still. Das zumindest ist das Ziel der Aktivist:innen.
Die Proteste der Letzten Generation würden zu weit gehen.
Der große Verlierer: Die Klimakrise.
Oder etwa nicht?
Der Protestforscher Jannis Grimm von der Freien Universität Berlin sieht das anders. Man müsse zwischen dem Anspruch der Protestbewegung und dem Framing unterscheiden. "Berlin lahmzulegen" hätte Mobilisierungscharakter. Gegenüber watson sagt er:
Selbst bei Massendemonstrationen mit Zehntausenden Menschen sei das nicht möglich. "Es wird vermutlich auch der Letzten Generation nicht gelingen, Berlin lahmzulegen. Nur punktuell – und das auch nur für einen sehr kurzen Zeitraum."
Das bedeute aber nicht, dass die Aktionen nicht trotzdem von Erfolg gekrönt sein können. "Es zählt ja auch zum Erfolg dazu, wenn man es schafft, sich weiter in der Debatte zu halten und den Druck konstant hochzuhalten."
Und dass Proteste und Aktionen von Klimaaktivist:innen Einfluss auf die Wahrnehmung der Klimakrise in der Bevölkerung haben, hat erst kürzlich eine Studie nachgewiesen. Dafür untersuchten Forschende in Gebieten von Großbritannien, in denen Extinction Rebellion in den letzten Jahren aktiv war, ob die Sympathien der Bevölkerung vor Ort für eine progressivere Klimapolitik zugenommen hatte. Die Antwort darauf war eindeutig: Ja. "Gleichzeitig gab es aber keine Zunahme der Sympathie für die Gruppe selbst", erklärt Grimm.
Die Studie verdeutlicht: Auch wenn die Menschen nicht mit gewissen Protestaktionen übereinstimmen, können diese dazu beitragen, die Wahrnehmung der Menschen zu verändern – und so eine progressivere Klimapolitik herbeiführen.
Grimm erklärt daher:
Doch wieso bleibt es bei dieser immergleichen Erzählung?
David gegen Goliath.
Progressiv gegen konservativ.
"Ich sehe keinerlei wissenschaftlich haltbare Indizien dafür, dass die Gesellschaft hinsichtlich des Klimaschutzes selbst gespalten ist", widerspricht Grimm. Im Gegenteil: Zahlreiche Studien zeigten, dass ein Großteil der Gesellschaft hinter einer progressiven Klimapolitik stehe.
Trotzdem sehe Grimm deutliche Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft uneins darüber ist, wie sie die Aktionen der Letzten Generation bewerten soll. Das aber sei nicht weiter ungewöhnlich. "Das gilt für sehr viele Gruppen, die provokant auftreten oder mit eher disruptiven Repertoires arbeiten und eher ungewöhnliche oder auch störende Taktiken anwenden. Auch damals während der Proteste gegen die Castortransporte war das beispielsweise so."
Stattdessen stell Grimm ein Phänomen fest, das sich in nahezu allen Politikfeldern finden lässt: Menschen finden sich grundsätzlich besser mit abstrakteren Politik-Entscheidungen ab, als mit solchen, die ihre eigene Lebenswirklichkeit betreffen. Für diese Verhaltensweise gibt es sogar eine eigene Bezeichnung: "Nimby" – abgeleitet von dem englischen Akronym "Not in my backyard".
Einfach gesagt bedeutet das zum Beispiel: "Jeder ist für Windkraft. Aber wenn es darum geht, das Windrad auf der Wiese hinter dem eigenen Haus aufzustellen, dann herrscht oft starke Ablehnung."
Die Menschen sind also prinzipiell für mehr Klimaschutz, die Einschränkung fossiler Brennstoffe und das Senken des Fleischkonsums. Allerdings nur so lange, wie diese Einschränkungen sie nicht persönlich treffen: Weil sie also plötzlich auf ihren Verbrenner verzichten sollen, die Energiepreise steigen und die Preise für Steak und Hühnchen ebenfalls.
"So lässt sich auch die Ablehnung gegen die Aktionen der Letzten Generation erklären – die Leute sehen sich plötzlich in ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit, zum Beispiel als Autofahrer*innen, betroffen und angegriffen." Doch genau diese Irritation wolle die Letzte Generation auch bei den Menschen hervorrufen, "weil sie die Leute ja sprichwörtlich 'wachrütteln' soll".
Und für diese Aktionen des zivilen Ungehorsams nehme die Gruppe explizit damit einhergehende Strafen in Kauf. Grimm erläutert das wie folgt:
Doch anstatt dass über die Ziele der Aktivist:innen gesprochen werde, drehe sich die Debatte bei der Letzten Generation bis heute um Fragen rund um die Form der Proteste: Ist das zu radikal? Ist die Letzte Generation eine Klima-RAF? Sind sie wie die Taliban, weil sie Kunstwerke beschmieren?
"Es ging viel zu oft darum, was Protest eigentlich darf, anstatt darum, was die Menschen eigentlich dazu treibt, solch hohe persönliche Risiken auf sich zu nehmen und sich auf der Straße festzukleben", betont Grimm. Zumal die Aktivist:innen dies nicht nur für ihr eigenes Wohl, sondern für die Allgemeinheit täten. Grimm ergänzt: