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Grönlands Eisschild schmilzt teilweise unumkehrbar – mit drastischen Folgen

Gletscher Eqi und Eisbrocken in Grönland
Nur noch wenige Überreste: Gletscher Eqi und Eisbrocken in Grönland im August 2022.Bild: IMAGO / imagebroker
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Grönlands Eisschild schmilzt teilweise unumkehrbar – mit drastischen Folgen

03.09.2022, 12:19
Daniel Huber / watson.ch
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Wir befinden uns derzeit in einem sogenannten Interglazial, einer Warmzeit innerhalb einer Eiszeit. Solche Eiszeiten, bei denen es in der Vergangenheit möglicherweise sogar zu einer Vergletscherung der gesamten Erdoberfläche kam, wechselten sich in der Erdgeschichte mit Warmzeiten ab, in denen der Planet weitgehend eisfrei war. Derzeit sind noch rund zehn Prozent der Landfläche von Eis bedeckt. Der weitaus überwiegende Teil der Eismassen ist im grönländischen und im – etwa zehnmal größeren – antarktischen Eisschild gebunden.

Ein Abschmelzen dieser Eisschilde würde den Meeresspiegel extrem ansteigen lassen – das grönländische Eis allein würde einen Anstieg von rund 7 Metern verursachen, das antarktische sogar von rund 58 Metern. Ein solcher Anstieg wäre selbstredend katastrophal; er würde die Küstenlinien der Kontinente stark verändern und riesige, oft dicht besiedelte Gebiete unter Wasser setzen.

Eisschild schmilzt immer schneller

Tatsächlich schmelzen die beiden Eisschilde – wie übrigens auch die Gletscher in den Hochgebirgen – mit beunruhigendem Tempo. Verantwortlich dafür ist nicht der Wechsel von Warm- und Kaltzeit – dieser verläuft sehr viel langsamer –, sondern die Klimaerwärmung. Gemäß des dritten Sonderberichts des Weltklimarats IPCC hat sich der Anstieg des Meeresspiegels beschleunigt; ohne Klimaschutzmaßnahmen wird er bis Ende des Jahrhunderts global um 60 bis 110 Zentimeter steigen.

Der grönländische Eisschild, dessen Eisvolumen geschätzt etwa 2,7 Millionen Kubikkilometer beträgt, ist dabei überproportional stark vom Klimawandel betroffen. Die Erwärmung in der Arktis vollzieht sich fast viermal schneller als anderswo auf der Welt; der Eisschild schmilzt immer schneller. 2021 regnete es am höchsten Punkt des Schilds, wo sonst nur Schnee fällt, zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen.

Eisverlust sogar ohne zusätzliche Klimaerwärmung

Doch selbst wenn es in der Zukunft keine zusätzliche Erderwärmung mehr gäbe – ein Szenario, das optimistischer ist als die optimistischste Annahme des Weltklimarats – würde allein die bisherige globale Erwärmung den grönländischen Eisschild weiterhin abschmelzen lassen und damit zu einem erheblichen Anstieg des Meeresspiegels führen. Zu diesem Schluss kommt eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Glaziologen Jason Box vom National Geological Survey of Denmark and Greenland (GEUS).

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Kleines Boot am Fjord mit Eisbergen und Eisstücken am Knud Rasmussen Gletscher, Ostgrönland.Bild: IMAGO / imagebroker

Die Forscher, die ihre Studie im Fachjournal "Nature Climate Change" veröffentlichten, nutzten keine Klimamodelle, sondern führten ihre Analyse einzig auf der Grundlage von Beobachtungsdaten durch. Anhand von Messdaten und Satellitenaufnahmen aus dem Zeitraum von 2000 bis 2019 ermittelten sie für insgesamt 473 Bereiche des Eisschilds, wie groß dort der Flächenanteil der sogenannten Akkumulationszone ist. Dies ist die Zone, die selbst im Sommer kein Eis verliert, jedoch im Winter durch Schneefall neues Eis hinzugewinnt.

Wandernde Schneegrenze

Die Trennlinie zwischen den Bereichen, die im Sommer Eis verlieren, und den Akkumulationszonen, bei denen dies nicht der Fall ist, wird "Schneegrenze" genannt – es ist der im Winter gefallene Schnee, der sich mit der Zeit in neues Eis verwandelt. Die Schneegrenze variiert von Jahr zu Jahr und hängt von den Wetterbedingungen ab – ein heißer Sommer kann dazu führen, dass sie weiter nach oben wandert. Dadurch vergrößert sich die Schmelzfläche und damit auch die Menge des Eises, das in diesem Jahr an der Oberfläche schmilzt. In kälteren Jahren wandert die Schneegrenze hingegen nach unten in Richtung der Eisränder; es geht dann weniger Eismasse verloren.

In einem stabilen Klima befindet sich der Eisschild im Gleichgewicht, das heißt, Eiszugewinn und Eisverlust halten sich die Waage. Wenn jedoch ein heißer Sommer dazu führt, dass ein größerer Teil der Schneeschichten abschmilzt, wird dieser Schnee in den folgenden Jahren im Massenhaushalt fehlen – es kommt dann zu einem Massenhaushaltsdefizit oder Ungleichgewicht.

Luftaufnahme eines abgetauten Eisbergs bei der Qaasuitsup Kommune, Grönland.
Luftaufnahme von 2022 eines abgetauten Eisbergs bei der Qaasuitsup Kommune, Grönland.Bild: IMAGO / Cavan Images

Verlust von 110 Billionen Tonnen Eis

Gemäß den Ergebnissen des Forscherteams besteht nun beim Grönlandeis bereits ein solches Massenhaushaltsdefizit: Bezogen auf die gesamte Fläche des grönländischen Eisschilds von etwa 1,78 Millionen Quadratkilometern sind die Akkumulationszonen kleiner, als sie sein sollten. Nach den Berechnungen der Wissenschaftler bedeutet dies, dass 3,3 Prozent des gesamten Eisschilds auch ohne weitere Klimaerwärmung abschmelzen werden – das sind 59.000 Quadratkilometer Fläche oder sage und schreibe 110 Billionen Tonnen Eis.

Ein Eisverlust dieser Größenordnung wird den globalen Meeresspiegel um 27,4 Zentimeter steigen lassen. Diese Menge an Schmelzwasser könnte – wie es in einer GEUS-Mitteilung heißt – die gesamten USA rund elf Meter tief unter Wasser setzen. Professor Box betont, dass es sich bei den "schockierenden" Ergebnissen um "einen sehr konservativen Tiefstwert" handle. Die gut 27 Zentimeter basieren nämlich auf einem Szenario ohne jede weitere Klimaerwärmung. "Realistischerweise wird sich diese Zahl in diesem Jahrhundert mehr als verdoppeln", warnt Box.

"In dem vorhersehbaren Szenario, dass sich die globale Erwärmung fortsetzt, wird der Beitrag des grönländischen Eisschilds zum Anstieg des Meeresspiegels weiter zunehmen. Wenn wir das extreme Schmelzjahr 2012 als hypothetisches durchschnittliches konstantes Klima im weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts nehmen, wird sich der unumkehrbare Massenverlust des Grönland-Eisschilds auf 78 Zentimeter mehr als verdoppeln."
Jason Box

Ungleichgewicht in Westgrönland

Wie die Forscher berichten, sind die Gletscher im Südwesten und Westen Grönlands stärker betroffen, da sie tiefer liegen und dort weniger Schnee fällt. Das Ungleichgewicht zwischen neu gebildetem und geschmolzenem Eis ist in diesem Gebiet viermal größer als im zentralen Ostgrönland. Dort bestehe noch ein Gleichgewicht zwischen Eiszugewinn und Eisverlust; diese Region trage bisher kaum zur Eisschmelze und damit zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Sollte aber ein warmes Klima wie im Jahr 2012 andauern, wäre in Zukunft auch der Osten Grönlands anfällig für einen Eisverlust.

Eisberg an der Küste von Grönland, nördlich von Ilulissat
Eisberg an der Küste von Grönland, nördlich von Ilulissat.Bild: IMAGO / imagebroker

Noch in diesem Jahrhundert

Keine Modelle der Eisentwicklung und des Klimas zu verwenden, sondern auf Beobachtungsdaten zurückzugreifen, sei eine ergänzende Methode zur Berechnung des Massenverlustes, die bisher gefehlt habe, erklärt Box. Allerdings habe sie den Nachteil, dass sie keinen Zeitrahmen angebe. "Aber unsere Beobachtungen legen nahe, dass der größte Teil des unaufhaltsamen Meeresspiegelanstiegs in diesem Jahrhundert stattfinden wird", stellt der Glaziologe fest.

Im Vergleich zu den Studienergebnissen des Forscherteams unterschätzen bisherige Prognosen das Risiko für dieses Jahrhundert. So ging etwa ein Bericht des Weltklimarats aus dem vergangenen Jahr davon aus, der grönländische Eisschild werde bis zum Jahr 2100 rund 18 Zentimeter zum globalen Anstieg des Meeresspiegels beitragen – und dies im Szenario mit dem höchsten Treibhausgasausstoss.

Der Befund der GEUS-Studie ist damit alles andere als beruhigend – zumal sie sich ja lediglich mit dem Meeresspiegelanstieg befasst, der durch das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds verursacht wird. Hinzu kommt aber noch der wesentlich umfangreichere Beitrag des antarktischen Eisschilds. Die Westantarktis allein verlor von 1992 bis 2017 rund 94 Gigatonnen Eis pro Jahr. Bestimmte riesige Gletschersysteme in dieser Region sind mittlerweile so instabil geworden, dass ihr Abschmelzen unumkehrbar werden könnte.

(Mit Material der Nachrichtenagentur SDA)

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