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Analyse

Debatte um Polizei-Gewalt: Geht das Vorgehen gegen Klima-Aktivisten zu weit?

24.04.2023, Berlin: Polizisten besprechen die Vorgehensweise zur Räumung der Kreuzung Hohenzollerndamm/Konstanzer Straße, wo Aktivisten auf der Fahrbahn sitzen. Am Montag will die Letzte Generation na ...
In den letzten Tagen haben Polizist:innen vermehrt Schmerzgriffe bei Aktivist:innen der Letzten Generation angewendet. Bild: dpa / Hannes P Albert
Analyse

Heftige Debatte um Polizeigewalt: Geht dieses Vorgehen gegen Klima-Aktivisten zu weit?

24.04.2023, 18:3324.04.2023, 18:34
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"Wenn ich Ihnen Schmerzen zufüge – wenn Sie mich zwingen – werden Sie die nächsten Tage, nicht nur heute, Schmerzen beim Kauen haben und beim Schlucken", erklärt ein Polizist einem auf der Straße sitzenden Aktivisten der Letzten Generation.

Der junge Mann bleibt sitzen, rührt sich nicht vom Fleck. "Ich bitte Sie, jetzt rüber zu gehen, jetzt sofort. Drei, zwei, eins", zählt der Polizist herunter, macht einen Schritt auf den Aktivisten zu und zieht ihn mithilfe eines weiteren Polizisten am Hals hoch. Die Beamten verdrehen dem jungen Aktivisten die Arme, er schreit laut auf. Offenbar handelt es sich um einen sogenannten Schmerzgriff.

Das geht aus einem Video hervor, das "MDR Investigativ" am Freitagabend veröffentlichte und das kurzerhand eine Debatte ausgelöst hat: Geht die Polizei zu weit?

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Polizei übt Gewalt aus ohne Gegenwehr

Das Video sorgt im Internet für eine Welle an Kritik: "Die Polizei muss immer prüfen, was das mildeste Mittel ist, um ihr Ziel zu erreichen", sagte Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Goethe-Universität in Frankfurt, gegenüber dem MDR. Und das wäre das Wegtragen des Aktivisten von der Straße gewesen, nicht die Anwendung von Nervendrucktechniken. Schmerzgriffe seien "aus rechtlicher Sicht kein probates Mittel", ergänzte Singelnstein.

"Die Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und können gegen Menschenrechte verstoßen."
Rechtsreferendarin Dorothee Mooser in ihrer Doktorarbeit

Auch der renommierte Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Jan Böhmermann stellen die Taktik der Polizei infrage. Für einen Rechtsstaat gehöre sich die Anwendung solcher Techniken nicht.

Was sind Schmerzgriffe – und sind diese überhaupt zulässig?

Bei den Nervendrucktechniken, besser bekannt als Schmerzgriffe, handelt es sich um Griffe aus dem Kampfsport, die dazu dienen, den Betroffenen teils extreme Schmerzen zuzufügen. Die Hoffnung der Polizist:innen bei Androhung schwerer Schmerzen: Dass die Aktivist:innen den Anweisungen der Beamt:innen gehorchen.

Doch selbst innerhalb der Polizei sind Techniken wie diese stark umstritten. Während die Berliner Polizei Schmerzgriffe als "rechtlich zulässige Transporttechnik" ansieht, lehnt die bayerische Polizei diese als unverhältnismäßig ab.

Auch unter Jurist:innen werden solche Maßnahmen kritisch beäugt. In ihrer Doktorarbeit aus dem Jahr 2022 kam die Rechtsreferendarin Dorothee Mooser zu dem Schluss: "Die Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und können gegen Menschenrechte verstoßen." Mooser zufolge verstießen die Griffe gar gegen das Folterverbot aus der Europäischen Menschenrechtsverordnung sowie das Grundgesetz.

Werden Polizisten gegenüber den Aktivisten aggressiver?

Und doch scheint das Klima auf der Straße immer aggressiver zu werden: Lange Zeit waren es allem voran Autofahrer:innen und Verkehrsteilnehmer:innen, die ihre Wut an den Aktivist:innen ausließen.

Weil sie im Stau steckten. Festsaßen.

Komplettes Verkehrschaos, mit dem besonders auch Lkw-Fahrer:innen und Busfahrer:innen konfrontiert waren: "Macht man sich eigentlich strafbar, wenn man die von der Straße reißt oder tritt?", fragt Busfahrer Heino seinen Kollegen beim Schichtwechsel. Zwei Haltestellen musste er komplett auslassen, weil nichts mehr gegangen sei. Die Leute seien dadurch panisch geworden, hätten angefangen, auch ihn zur Weiterfahrt zu drängen.

"Das ist doch bescheuert, wenn hier alle stecken bleiben. Dann haut das noch mehr CO₂ in die Luft raus und die Leute, die extra nicht mit dem Auto fahren, kommen gar nicht mehr weiter und machen uns Busfahrern Stress", klagt er.

"Auch, wenn sie sich nicht gewehrt hat, wurde ihr dabei der Arm hinter dem Rücken verdreht und es war sehr schmerzhaft."
Sprecher der Letzten Generation, Jakob Beyer, über seine Freundin

Doch sinkt die Toleranzgrenze jetzt auch unter den Polizist:innen? Zumindest lassen dies Vorkommnisse aus den letzten Tagen vermuten: So veröffentlichte die Letzte Generation etwa am Sonntag ein Video des Aktivisten Lennart, der mit eingegipstem Arm in die Kamera spricht.

Demnach sei er am vergangenen Mittwoch an einer Blockadeaktion in Berlin beteiligt gewesen, bei dessen Räumung ihm durch einen Schmerzgriff eines Polizisten das Handgelenk angebrochen worden sei.

Polizei äußert sich nicht zu Verschärfung der Maßnahmen

"Grundsätzlich ist es so, dass uns die Polizei in den meisten Fällen von der Straße trägt, was das Angemessenste in dieser Situation ist", erzählt Jakob Beyer, Sprecher der Letzten Generation, im Gespräch mit watson. "Aber die Gewalt nimmt zu."

Erst heute sei auch seine Freundin Elena von der Polizei von der Straße gezerrt worden. "Auch, wenn sie sich nicht gewehrt hat, wurde ihr dabei der Arm hinter dem Rücken verdreht und es war sehr schmerzhaft." Auch einige Stunden später könne sie ihr Ellenbogengelenk nicht bewegen, gebrochen sei aber nichts. "Der Polizist entschuldigte sich anschließend und Elena hatte den Eindruck, dass es auch aufrichtig war."

Andere Aktivist:innen berichten wiederum von recht friedlichem Verhalten der Polizei: "Bislang haben wir heute keine gewalttätigen Erfahrungen mit der Polizei gehabt", erzählt Ole, ein 21-jähriger Klimaaktivist aus Greifswald gegenüber watson. Er und sieben weitere Klimaaktivist:innen hatten am Montag die Kreuzung bei der Mühlendammbrücke in Berlin-Mitte blockiert und wurden daraufhin von der Polizei von der Straße gezogen.

In Hamburg habe sich die Lage laut Jakob Beyer bereits vor einiger Zeit verschärft. Dort hätten Polizist:innen in den vergangenen Wochen vermehrt Schmerzgriffe bei den Aktivist:innen der Straßenblockaden angewendet, "anstatt die Menschen einfach von der Straße zu tragen". Damit steige auch die psychische Belastung. Mit Blick auf die zunehmende Gewalt ergänzt Jakob:

"Ich merke auf jeden Fall an mir selbst, dass die Angst größer wird, Straßen zu blockieren. Ich hatte die naive Vorstellung, dass die Gewalt eher weniger wird und die Akzeptanz wächst, weil die Menschen sich daran gewöhnen – aber genau das Gegenteil ist passiert. Und obwohl die Gewalt größer wird – sowohl von der Polizei als auch den Autofahrern – werden wir immer mehr."

Auf eine Anfrage von watson, ob die Polizei ihre Maßnahmen aus taktischen Gründen gegenüber der Letzten Generation verschärft habe, antwortete eine Sprecherin der Polizei nicht. Sie erklärte lediglich, dass rund 500 Beamt:innen im Einsatz seien.

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