Als Linda Kastrup das erste Mal nach Lützerath kommt, ist die Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler noch ein ganzes Stück weit von dem kleinen Dorf entfernt. Das war vor gut eineinhalb Jahren. Wie weit genau die Kante entfernt war, weiß die Fridays-for-Future-Aktivistin aus Duisburg nicht. Aber weit genug, als dass sie nicht vor dem abgrundtiefen Krater stehen und in die schwarze Zukunft blicken musste.
Zu groß ist ihre Angst damals.
Mit der Zeit aber sinkt die Hemmschwelle, wie sie erzählt. Und selbst wenn nicht, hätte sie heute kaum noch eine Wahl, denn die riesigen Bagger fressen sich näher und näher an den besetzten Ort Lützerath heran.
Mittlerweile ist die Abbruchkante nur noch ein paar Dutzend Meter von Lützerath entfernt.
Es sind ein paar Dutzend Meter Hoffnung.
Ein paar Dutzend Meter Widerstand.
Ein paar Dutzend Meter Angst.
"Wenn man da so steht und in dieses riesige Loch blickt, wird einem erst das Ausmaß dieser Zerstörung bewusst", sagt Linda. Sie ist bundesweite Sprecherin von Fridays for Future und jetzt, kurz vor der geplanten Räumung Lützeraths, immer wieder in dem kleinen Ort in der Nähe von Köln zu Besuch.
Für Proteste.
Für Demonstrationen.
Dabei schwirren ihr die immergleichen Fragen durch den Kopf: "Wie nur kann es sein, dass das [Anmoderation d. Red.: Abbaggern der Kohle] weiter akzeptiert wird? Dass ein riesiger Krater immer tiefer in unsere Welt gegraben wird und der Aufschrei noch immer nicht groß genug ist, als dass sie stoppen würden?"
Trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Trotz des Pariser Klimaabkommens und der Einigung auf das 1,5-Grad-Ziel.
Linda kann das nicht verstehen.
Sie sagt aber auch:
In den letzten hundert Jahren wurden knapp 300 Dörfer in Deutschland für den Kohleabbau geräumt, über 100.000 Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Mühlrose in Sachsen und Lützerath in Nordrhein-Westfalen sollen die letzten Dörfer sein, die der Kohle weichen müssen.
Dafür sorgt unter anderem ein fragwürdiger Deal zwischen zwei grünen Minister:innen und dem Kohlekonzern RWE: Lützerath soll abgebaggert werden, dafür soll der Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier von 2038 auf 2030 vorgezogen werden. Um Emissionen einzusparen, wie NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und Bundesklimaminister Robert Habeck (beides Grüne) im Oktober verkündeten.
Doch das Abbaggern Lützeraths tut laut einer Studie der "Fossil Exit Group", in der Forschende der Europa-Universität Flensburg, der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung mitarbeiten, überhaupt nicht Not. Der Studie nach besteht für die angebundenen Kraftwerke bis 2030 noch ein maximaler Bedarf von 271 Tonnen Braunkohle. Genehmigt wurden bereits 300 Tonnen – und zwar ohne Einberechnung der Kohle unter Lützerath.
Der Bedarf an Braunkohle, so das Fazit der Forschenden, könnte also auch ohne den Abriss des Dorfes gedeckt werden.
RWE allerdings stützt sich auf andere Zahlen. Dem Konzern nach werde die Kohle unter Lützerath dringend benötigt, um den wachsenden Energiehunger Deutschlands zu stillen. Doch diese Zahlen werden von zahlreichen Forschenden angezweifelt.
Und so auch von den Aktivist:innen.
Linda sagt:
Denn die Klimakrise, sagt Linda, mache am Ende des Tages keine Kompromisse. "Und die Klimakrise interessiert es auch nicht, ob die Grünen ein bisschen was einstecken mussten." Weil sie Lützerath für einen früheren Kohleausstieg geopfert haben.
"Das einzige, was zählt, ist, dass Emissionen eingespart werden. Und bei diesem Deal wird keine einzige Tonne eingespart. Das Ganze ist ein Zahlendreher, bei dem RWE noch Profit rausschlägt."
Deswegen gehen die Menschen auf die Barrikaden.
Blockieren die kleine Ortschaft, kämpfen für ihren Erhalt.
Teilweise auch mit Gewalt.
"Wenn die Kohle in Lützerath verbrannt wird, dann brechen wir das Pariser Klimaabkommen – dann reißen wir die 1,5-Grad-Grenze", sagt Linda. In ihrer Stimme schwingt Verzweiflung mit.
Aber auch ein letzter Funken Hoffnung.
Noch vor einer Woche standen lediglich ein paar Zelte herum, jetzt füllen sich die Zeltflächen – "das ganze Dorf ist wahnsinnig belebt".
Aus ganz Deutschland reisen Menschen an, um für den Erhalt Lützeraths zu kämpfen.
"Das, was mir gerade viel Hoffnung gibt, sind all diese Menschen, die sich solidarisch zeigen und bundesweit für den Erhalt von Lützerath einsetzen", sagt Linda. "Es muss eine Möglichkeit geben, diese Räumung zu stoppen. Wir können das so nicht hinnehmen."
Und wenn das nicht klappt?
Linda schweigt einen Moment, zögert. Dann erwidert sie: