Vor wenigen Tagen hat das Umweltbundesamt (UBA) seine Treibhausgas-Projektionen 2024 veröffentlicht. Der Bericht ist besonders: Die Autor:innen ziehen nicht nur Bilanz über die Emissionen der vergangenen Jahre, sondern sie richten auch den Blick nach vorne und schauen, wie sich der Ausstoß von CO₂ und anderen klimazerstörerischen Treibhausgasen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln könnte.
Diese Projektionen sind zentraler Teil der neuen Klimapolitik der Ampel: Wie ein Frühwarnsystem sollen sie frühzeitig darauf aufmerksam machen, wenn Klimaschutzmaßnahmen nicht für ausreichende Emissionseinsparungen sorgen. Das verschafft den Regierenden Zeit, in der weitere Maßnahmen eingeführt werden können. Sandsäcke stapeln, statt Keller auspumpen. Es könnte gelebter Klimakatastrophenschutz sein.
Glücklicherweise prognostizieren die Autor:innen, dass das Klimaziel 2030 eingehalten werden könnte. Zwar verfehlt insbesondere der Problemsektor Verkehr das Klimaziel um Längen, die Einsparungen in anderen Bereichen würden dies aber ausgleichen.
Die vorgeschlagene Änderung des Klimaschutzgesetzes macht das überhaupt erst möglich. Wie praktisch! (Vorsicht, Ironie.) Auf Lobeshymnen für die eigene Politik im Anschluss an die Verkündung der Ergebnisse verzichtete die Ampel natürlich nicht.
Aber: Dieser hoch politische Bericht zieht keine ehrliche Bilanz über den aktuellen Stand der Klimapolitik. Die Ampel rechnet sich die Krise schön.
Erstens: Die Kompensation einiger Sektoren bei Zielverfehlung in anderen Sektoren kann langfristig nur scheitern.
Schon in den vergangenen Jahren wurden im Verkehr- und Gebäudebereich die Klimaziele wieder und wieder verfehlt. Die Untätigkeit der Bundesregierung ist so gravierend, dass aktuell vor Gericht verhandelt wird, ob sie mit Sofortmaßnahmen nachsteuern muss.
Die Autor:innen gehen davon aus, dass sich dies auch in den nächsten sechs Jahren nicht ändern wird; die Klimaziele werden lediglich dadurch eingehalten, dass in anderen Sektoren – Energie und Industrie – mehr Emissionen als geplant eingespart werden. Kurzfristig kann eine solche Kompensation funktionieren. Langfristig wird sie scheitern.
Die Transformation in den Bereichen, die Bürger:innen direkt betreffen, braucht Zeit. Der Ausbau vom Bahnnetz, die Umrüstung von Öl- und Gasheizungen auf klimafreundliche Energien dauert. Die sektorspezifischen Klimaziele berücksichtigen dies und sorgen dafür, dass der Umbau Schritt für Schritt gelingen kann.
Kompensieren andere Sektoren für die unzureichende Politik im Verkehrs- und Gebäudesektor, hübscht das kurzfristig die Bilanz auf. Irgendwann müssen aber die Emissionen auch in diesen Sektoren sinken, Verrechnung hin oder her. Und je später damit angefangen wird, umso unwahrscheinlicher ist es, dass der Umbau zu klimaneutralem Verkehr und Wohnen bis 2045 gelingt.
Zweitens: Die Einsparungen der vergangenen Jahre sind Krisenprodukte, keine Folge nachhaltiger Klimapolitik.
In den vergangenen Jahren waren die gestiegenen Preise für Öl und Gas sowie die Reduktion der Industrieproduktion hauptverantwortlich für den Emissionsrückgang. Nur rund 15 Prozent der Einsparungen 2023 sind das Ergebnis von nachhaltigen Veränderungen – sprich dem Ausbau von Erneuerbaren Energien oder Effizienzsteigerungen.
Davon auszugehen, dass der Trend der vergangenen Jahre sich fortsetzt, ist verantwortungslos: Mit sinkenden Energiepreisen und Steigerung der Industrieproduktion ist davon auszugehen, dass die Emissionen wieder deutlich steigen werden.
Drittens: Der gesamte Bericht baut auf Maßnahmen auf, deren Einführung völlig ungewiss ist.
Grundlage des Berichts sind die Projektionen aus 2023. Diese wiederum bauen auf dem sogenannten MWMS, dem “Mit-Weiteren-Maßnahmen-Szenario” auf. Es werden also politische Maßnahmen mit einberechnet, bei denen vollkommen unklar ist, ob sie eingeführt werden.
Im Energiebereich ist der deutschlandweite Kohleausstieg bis 2030 für den Löwenanteil der Emissionseinsparungen verantwortlich. Dass dieser bisher nur im Rheinland gesetzlich geregelt ist und die Ministerpräsidenten eine Ausweitung auf das Mitteldeutsche und Lausitzer Braunkohlerevier blockieren, wird vernachlässigt.
Bei der Industrie sieht es ähnlich aus: Der europäische Emissionshandel soll hier für große Einsparungen sorgen. Doch schon jetzt lässt die Realität die Prognose alt aussehen. Weil der europäische Preis für CO₂-Verschmutzungsrechte immer weiter sinkt, fehlt der Anreiz für klimaschädliche Industrien, ihre Produktion grün umzubauen.
Indem drei fundamentale klimawissenschaftliche Aspekte vernachlässigt werden, verschwinden plötzlich hunderte Millionen Tonnen CO₂ aus der Rechnung. Die Regierung schönt die Bilanz, steht gut da und lobt sich dafür selbst. Schlimmer ist aber: Mit diesem Zweck-Optimismus macht die Ampel das Frühwarnsystem kaputt.
Indem Robert Habeck aus dem Bericht ableitet, die Klimapolitik sei "auf Kurs", erweckt der Wirtschaftsminister den Anschein, dass die sozial-ökologische Transformation ab jetzt ein Selbstläufer sei.
Dem ist mitnichten so: Um die prognostizierten Einsparungen und damit die Klimaziele einzuhalten, braucht es ein konsequentes Umsetzen aller Maßnahmen: Kohleausstieg bis 2030, schneller Roll-Out von Wärmepumpen und Fernwärme, ein wirksamer CO₂-Preis, Subventionen für klimafreundliche Technologien und mehr. Das Klimaziel rückt zwar auf dem Papier in Reichweite – zur realen Einhaltung müssen jetzt aber bei jeder klimapolitischen Entscheidung ambitionierte Weichen gestellt werden.
Ein realistischer Projektionsbericht, der auf Schwachstellen der aktuellen Politik aufmerksam macht, sieht anders aus. Trotz dieser verantwortungslosen Fehlinterpretation versteckt sich etwas sehr Relevantes in den Daten des Umweltbundesamtes.
Denn die Projektionen zeigen deutlich: Klimaschutz scheitert nicht an den fehlenden Maßnahmen, Klimaschutz scheitert am politischen Willen. Die Ideen, wie Emissionen konkret gesenkt werden können, liegen längst auf dem Tisch. Sie müssen lediglich umgesetzt werden.