Nachhaltigkeit
Gastbeitrag

WM 2022: Der Umgang mit Katar – ein Symbol institutionellen Versagens

08.11.2022, Ägypten, Scharm El Scheich: Luisa-Marie Neubauer (r), Klimaaktivistin der Fridays for Future Bewegung, hat sich bei der UN-Weltklimakonferenz neben Vanessa Nakate aus Uganda die Worte &quo ...
"No New Gas", fordern Umweltaktivist:innen wie Luisa Neubauer (rechts) schon bei der COP in Ägypten. Auch in der Kritik an der WM in Katar geht es um die klimazerstörenden Geschäfte des Landes mit fossilen Energien.Bild: dpa / Michael Kappeler
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Fridays for Future: Warum die Katar-Debatte ein Symbol für institutionelles Versagen ist

02.12.2022, 15:31
annika rittmann - gastautorin
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Die Frage: "WM in Katar - gucken oder nicht gucken?" war wohl für viele Menschen eine präsente und im Zweifel auch sehr kontroverse Frage der vergangenen Wochen. Auch der öffentliche Diskurs hat dazu beigetragen, dass sich inzwischen immer mehr Menschen der katastrophalen Menschenrechtslage in Katar bewusst sind. Und trotz all der Debatten, die geführt werden, trotz all der Artikel, Dokumentationen, Kolumnen, Kommentare über die Lage vor Ort, scheint das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen und damit der Kern des Problems bei vielen Menschen dennoch nicht angekommen zu sein.

"Die Lage in Katar ist absurd und der Diskurs begibt sich auf diese absurde Ebene."

Es wird über die Anzahl der Arbeitsmigrant:innen gestritten, die aufgrund der Arbeitsbedingungen beim Bau gestorben sind. Aber es wird nicht darüber gesprochen, dass Katar den Menschen offensichtlich so wenig Wert zuschreibt, dass sie nicht einmal festhalten, wie viele Arbeiter:innen gestorben sind. Das gilt für den Bau der Stadien, aber auch die anderen Baustellen, auf denen in Katar Arbeitsmigrant:innen eingesetzt werden.

Verbot der "One Love"-Binde

Es wird darüber gestritten, was es bedeutet, wenn die FIFA "One Love"-Binden verbietet. Aber es wird nicht darüber gesprochen, dass Katar es damit geschafft hat, von der desaströsen Rechtslage queerer Menschen in Katar abzulenken: Auf "homosexuelle Handlungen" stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis! Es wird debattiert, ob Frauen als Schiedsrichterinnen bei Turnieren der Männer eingesetzt werden dürfen – das sollte eigentlich selbstverständlich sein! Aber es wird nicht darüber gesprochen, dass der männliche Vormund eine Frau in Katar verklagen kann, wenn sie "ungehorsam" war – und vor Gericht ist ihre Stimme dann auch noch weniger wert.

Alle zwei Wochen melden sich Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future in einem Gastbeitrag bei watson zu Wort.
Alle zwei Wochen melden sich Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future in einem Gastbeitrag bei watson zu Wort.

Staatseinahmen durch Klimazerstörung

Es wird darüber diskutiert, dass der Neubau der Stadien und deren Kühlung einen riesigen CO₂-Ausstoß bedeuten. Dabei ist das wirklich das kleinste Problem in einem Staat, der einen Großteil der Staatseinnahmen durch den Export fossiler Energieträger und damit durch die Zerstörung des Klimas macht. Die Liste könnte man hier noch endlos weiterführen. Die Lage in Katar ist absurd und der Diskurs begibt sich auf diese absurde Ebene und führt Detaildiskussionen, wo Grundsatzkritik angebracht wäre.

Konflikt-Verschiebung in den persönlichen Bereich

Vor diesem Hintergrund müssen natürlich alle Menschen eine Entscheidung für sich treffen, ob sie die WM schauen wollen oder nicht. Wir dürfen dabei aber die dahinterstehenden Fragen über das System der FIFA nicht vergessen: "Wieso werden die Austragungsorte von WM zu WM immer absurder? Wieso wird seit Jahren bei der Vergabe der WM die Menschenrechtssituation in den entsprechenden Ländern ignoriert?" Hier findet sich eine entscheidende Parallele zur gesellschaftlichen Debatte über die Klimakrise: Das eigentliche Problem liegt bei Institutionen, Gremien und Unternehmen, die sich der Veränderung in den Weg stellen.

"Das ist weder sozial noch ökologisch, noch außenpolitisch oder moralisch eine gute Idee."

Anstatt dort den Konflikt auszutragen und den gesellschaftlichen Diskurs über diese Verantwortlichen zu führen, schaffen sie es immer wieder, die Verantwortung in den persönlichen, individuellen Raum zu verlagern. Anstatt am Esstisch auseinanderzunehmen, ob man das Spiel am Wochenende schauen kann, sollte die FIFA und die großen Verbände darum herum mal anfangen, eines ihrer unzähligen Probleme von Korruption, über Klimaschädlichkeit und Menschenrechtslage anzugehen. Anstatt ständig darüber zu diskutieren, ob man es sich jetzt finanziell oder ökologisch leisten kann, die Heizung anzudrehen und überall Energiespartipps zu verbreiten, müsste die Regierung Maßnahmen für eine sichere, bezahlbare und ökologische Energieversorgung umsetzen.

Katar-Debatte ist auf die Klimakrise übertragbar

Stattdessen bindet sich die Regierung ab 2026 weitere 15 Jahre an fossiles Gas aus Katar. Damit bricht sie erneut die Versprechungen des Pariser Klimaabkommens, ohne einen Beitrag zur Lösung der akuten Energiekrise zu leisten, denn das Gas kommt erst ab 2026. Inzwischen weiß jeder um die katastrophale Menschenrechtslage in Katar. Es ist allseits bekannt, was das Problem daran ist, sich von fossiler Energie aus autokratischen Staaten abhängig zu machen. Der Grund für unsere miserable Situation aktuell ist die Abhängigkeit von fossilem Gas aus Russland, einem autokratischen Staat. Wie kann man sich als selbsternannter "Klimakanzler" hinstellen und die Abhängigkeit von einer absoluten Monarchie als großen Erfolg verkünden? Das ist weder sozial noch ökologisch, noch außenpolitisch oder moralisch eine gute Idee.

Annika Rittmann, Pressesprecherin der Hamburger Ortsgruppe bei Fridays for Future
Annika Rittman, 20, ist Pressesprecherin bei Fridays for Future in Hamburg.Bild: fridays for future

Nur der Boykott der WM bringt keine Veränderung

Diese Verlagerung von Debatten ist fatal, denn es passieren zwei Dinge: Die eigentlichen Ursachen und Verursacher werden überdeckt von dem Appell, dass wir alle ein bisschen mehr moralisches, ökologisches Bewusstsein bei unseren (Kauf-)Entscheidungen an den Tag legen müssen. Dabei ist offensichtlich, dass Menschen durch den Boykott der WM die katastrophale Menschenrechtslage in Katar oder den Ausverkauf des Fußballs nicht alleine verhindern können.

Nicht aufhören über Politik und Klima zu reden

Genauso ist es klar, dass ein bisschen weniger Fleisch essen, ein bisschen weniger Autofahren und ein bisschen seltener zum Weihnachtsmarkt gehen die Klimakrise nicht aufhalten wird. Zum anderen werden durch diese Diskursverschiebung persönliche Beziehungen vergiftet. Menschen sagen irgendwann: "Bitte nicht mehr über Politik reden, bitte nicht mehr übers Klima reden." Mit dieser organisierten Verantwortungslosigkeit werden die politischen Räume strukturell dichtgemacht.

Am Ende scheint niemand mehr verantwortlich zu sein und keiner möchte darüber sprechen. Dieses institutionelle Versagen, Krisen – ob bei der FIFA oder noch katastrophaler der Bundesregierung – ernstzunehmen, können wir nicht mehr hinnehmen. Es ist einer der Gründe, die uns auf die Straße treiben.

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