Was Clemens Feigl und die anderen Gründer von Everwave aus dem Wasser fischen, würde man so auch bei einem Spaziergang durch den Supermarkt finden: PET-Flaschen, Deospraydosen, Flip Flops, Einweg-Kaffeebecher, Spielzeug, sogar ganze Kühlschränke werden aus dem dreckigen Wasser gezogen. "Alles, was wir gefunden haben, hatte man irgendwann mal selbst in der Hand, als es noch kein Abfall war", sagt Feigl.
Dass die Sachen, die wir eigentlich aus dem Drogerie- oder Supermarktregal kennen, als Abfall im Wasser landen, ist kein Einzelfall: Schätzungen zufolge wandern jährlich rund 12 Millionen Tonnen Verpackungsmüll in die Ozeane. Und weil der Jahrhunderte braucht, um sich vollständig zu zersetzen, finden kleinste Mikroplastikpartikel irgendwann auch wieder den Weg zu uns zurück – im Leitungswasser oder im Bauch von Meerestieren auf unserem Teller.
Das Team des Aachener Startups Everwave will das verhindern. Die Mission: Plastikmüll aus dem Wasser fischen – am besten noch bevor er ins offene Meer gelangt. "Wir wissen, dass der Haupteintragungsort für den Plastikmüll im Meer die Flüsse sind", sagt Co-Founder Feigl gegenüber watson. Dort sollen deshalb Plattformen installiert werden, die mit der Strömung treibenden Müll auffangen. "Wir nutzen die Strömungsumleitung des Flusses, um Plastik in die Reservate zu lenken", sagt Feigl. Und ein mit Sensoren und künstlicher Intelligenz ausgestattetes Müllsammelboot soll den Müll an Land bringen und kann zudem eigenständig an Müll-Hotspots agieren.
Wie das genau funktioniert? Mit einer Drohne werden größere Ansammlungen von Müll ausfindig gemacht, sodass das Boot dorthin fahren kann, wo es besonders gebraucht wird – und wo die Plattformen wenig ausrichten können. In schmalen Kanälen innerhalb von Städten etwa, oder dort, wo die Fließgeschwindigkeit des Wassers zu gering ist, damit das System der Plattform funktionieren kann.
Das Boot befördert den im Wasser schwimmenden Abfall dann über ein Förderband an Bord, Sensoren identifizieren mit Künstlicher Intelligenz, um was für Müll es sich handelt. So erfährt das Team mehr über die Art, Menge und Zusammensetzung des Mülls – und lokale Regierungen, Behörden und Umweltschützer können Gegenmaßnahmen ergreifen, um dafür zu sorgen, dass der Müll gar nicht erst ins Wasser gelangt. In Verbindung mit Wetterdaten kann sogar simuliert werden, wie schnell und wo sich das Plastik im Fluss verteilt.
Denn dass der Plastikmüll im Wasser landet, ist in vielen Ländern an der Tagesordnung – und wir in Europa sind mit dafür verantwortlich. "Wir exportieren unseren Müll an Orte, von denen wir genau wissen, dass sie kein funktionierendes Abfallverwertungssystem haben und der Müll in offenen Deponien landet", kritisiert Feigl. "Wenn es dann einmal stark regnet oder windet, gelangt der Abfall automatisch ins Wasser." Das Team von Everwave will an solchen Orten ansetzen, an Flüssen in Kenia, Nigeria oder Madagaskar etwa.
Die Plastikmüll sammelnde Plattform existiert bislang allerdings erst als Prototyp. Das Müllsammelboot, das die Everwave-Gründer "CollectiX" nennen und zusammen mit der Firma Berky entwickelt haben, existiert aber schon und war im Sommer in der Slowakei im Einsatz. Drei Tage lang schaufelte es Abfall aus einem Nebenfluss der Donau, dann war das Geld aus dem Crowdfunding aufgebraucht. "Wir hätten noch deutlich länger bleiben können, es gab dort so viel Müll", sagt Feigl.
Videoaufnahmen zeigen riesige bunte Inseln aus Plastikmüll und Treibholz, die sich an einem Damm im Fluss Hron angesammelt haben. Fernsehkameras halten den Einsatz des ungewöhnlichen Boots fest, Anwohner schauen neugierig über die Brüstung des Damms, Gespräche mit Regionalpolitikern folgen. Wenn so ein spektakuläres Boot wie das "CollectiX" auftaucht, spricht sich das schnell herum – entsprechend groß ist das Interesse. Das wollen die Gründer nutzen, um künftige Einsätzen mit Umweltbildung in naheliegenden Schulen verbinden.
20 Tonnen Müll fischte das Boot in den drei Tagen in der Slowakei aus dem Wasser, allerdings auch viele große Baumstämme. Unter idealen Bedingungen sollen die 20 Tonnen an einem Tag erreicht werden. Gleichzeitig soll vermieden werden, dass Fische und andere Tiere aus dem Wasser gezogen werden. "Bisher haben wir aber keinen einzigen Fisch an Bord gesehen", sagt Feigl. Der Lärm des Förderbands und das Blitzen des Stroboskops dürften ihren Teil dazu beitragen.
Ursprünglich wollten die Gründer von Everwave dort ansetzen, wo das Problem des Plastikmülls am sichtbarsten ist: Am Great Garbage Patch, dem gigantischem Müllstrudel inmitten des Pazifiks, der fast die Größe Mitteleuropas hat. "Uns verbindet die Leidenschaft fürs Wasser", sagt Feigl, ob als Wassersportler, Taucher oder Meeresfan, eine Verbindung zum Ozean hat jeder. Die entscheidende Idee zu Everwave – das zunächst Pacific Garbage Screening hieß – hatte Architektin Marcella Hansch dann auch bei einem Tauchgang, der unfreiwillig zwischen Plastiktüten endete.
Doch im offenen Meer ist der Plastikmüll schwer zu erreichen, zudem hat die Erosion oft schon ihre Arbeit getan, das Plastik ist schwerer greifbar und durch die lange Zeit an der Sonne und im Salzwasser nicht mehr wirklich recyclebar. Deshalb sollen die Plattformen in der Zukunft in Flüssen rund um die Uhr neuen Plastikmüll daran hindern, erst gar nicht ins Meer zu gelangen – dort können sie fest verankert, einfacher gewartet und entleert werden.
Dass das bislang nur in der Theorie und nicht in der Praxis passiert, liegt an der Finanzierung – irgendwer muss schließlich für die Säuberungseinsätze bezahlen. Bisher werden diese nur von Spenden getragen, die Gründer sind aber auch mit Städten, Regionen, Ländern und offiziellen Stellen der EU im Gespräch. Die Bürokratie ist dort aber oft langsamer als das den Fluss hinabtreibende Plastik. Deshalb soll künftig auch Unternehmen die Möglichkeit gegeben werden, die Bootseinsätze als Marketingmaßnahme zu finanzieren.
Irgendwann, hoffen die Gründer, sollen die Plattformen vor Ort sogar einen finanziellen Nutzen bringen. Denn sie sind so konzipiert, dass sie einfach selbst gewartet und repariert werden können. "Da braucht es keinen deutschen Techniker, wir wollen die Menschen vor Ort einbinden und so Arbeitsplätze schaffen", sagt Feigl. "Wir bräuchten zwei bis drei Bootsfahrer und Menschen, die den Müll sortieren." So könnte der re- und upgecycelte Müll irgendwann noch einen kleinen finanziellen Nutzen haben – auch wenn es natürlich das Ziel ist, dass Shampooflaschen, Trinkflaschen oder Autoreifen gar nicht mehr erst im Wasser landen.