Der Frust musste raus: Zunächst ein vorsichtiger Griff in die perfekt gelegten Haare, dann ein wütender Aufschrei, ein energisches Händeklatschen und schließlich die Krönung – ein Tritt in die Werbebande. Christian Titz, Trainer des 1. FC Magdeburg, orchestrierte seine Wut während der 0:3-Heimniederlage gegen Hannover in mehreren Tonlagen heraus.
"Wir haben uns schlichtweg selbst geschlagen", analysierte der Übungsleiter nach dem Spiel ob hergeschenkter Gegentore und verschenkter eigener Chancen angefressen. Wie Titz an der Seitenlinie tobte, war ein Symbolbild. Allerdings nur für jenen Sonntagnachmittag. Denn ansonsten hat der Mann, der seit Februar 2021 FCM-Cheftrainer ist, in aller Regelmäßigkeit Grund zum Strahlen. Wie eigentlich alle, die es mit den Blau-Weißen halten.
Unter Titz hat der Traditionsverein aus Sachsen-Anhalt nämlich eine sportliche Entwicklung genommen, die vor seiner Amtsübernahme wohl nur die wenigsten vorausgesagt hätten. Als der Coach im Frühjahr 2021 nach Magdeburg kam, stand der Klub im Tabellenkeller der 3. Liga. Aktuell gehört der FCM zum Feld jener Teams, die am Aufstieg in die Bundesliga schnuppern.
Dabei misslang sein Auftakt vor fast vier Jahren, die ersten drei Partien unter dem Coach gingen alle verloren. Dann aber gelang die Wende.
Der FCM startete eine sensationelle Aufholjagd, beendete die Spielzeit auf einem sicheren elften Rang und übernahm den Schwung mit in die nächste Saison. Titz führte den Beinahe-Absteiger zum Aufstieg in die 2. Bundesliga. In dieser hat sich der Traditionsklub seither gehalten.
"Magdeburg hat mit Christian Titz einen überragenden Trainer, der einen Plan hat und den auch durchdrückt", lobt Maik Franz im Gespräch mit watson. Der Ex-Profi hatte seine Karriere einst beim FCM begonnen, später dort auch in der sportlichen Führung gearbeitet. Den Verein hat er noch genau im Blick.
Titz steht für ein dominantes Spiel, weiß dieses seiner Mannschaft zu vermitteln. In puncto Ballbesitz und Passquote ist der FCM seit dem Aufstieg stets unter den besten drei Teams der Liga. Torhüter Dominik Reimann muss viel mitspielen, nimmt diese Aufgabe aber an.
Das birgt ein Risiko und ist in Phasen auch schon schiefgegangen. Titz aber genießt im Verein die notwendige Rückendeckung, um in Ruhe weiterarbeiten zu können. Diese Saison kitzelt er vor allem noch mehr Intensität aus seinen Profis heraus. Bei den intensiven Läufen liegen die Magdeburger Profis auf dem zweiten Rang, bei den Sprints sogar auf dem ersten.
"Wenn sie die zwei Durchhänger, die sie in der Vorsaison hatten, kürzer gestalten können, werden sie weiter oben landen", prophezeite Franz vor der Saison.
Bemerkenswert ist allerdings nicht nur die sportliche Entwicklung des 1. FC Magdeburg unter Titz, sondern die des gesamten Vereins in den vergangenen Jahrzehnten. Eines Vereins, der einem elitären Kreis angehört: Der FCM ist einer von nur neun deutschen Klubs, der einen Europapokal gewonnen hat, sogar der einzige aus der früheren DDR. 1974 errang das Team durch ein 2:0 über den AC Mailand den Europapokal der Pokalsieger.
Noch in den frühen 80er-Jahren begleiteten knapp 25.000 Fans ihren FCM zu einem Pokalfinale, die Begeisterung für den Klub war enorm. Sportliche Highlights aber sollten zur Rarität werden, denn schon vor der Wende ging es bergab. In der Liga war der Traditionsverein plötzlich nur noch Mittelmaß. Die Wende traf den FCM, wie praktisch alle Ostklubs, hart.
Aufstrebende Spieler wie etwa Dirk Schuster konnten nicht gehalten werden, die Qualifikation für die 2. Bundesliga misslang. Magdeburg stürzte in den Amateurfußball. Die Gegner hießen nun plötzlich nicht mehr Milan oder Bayern, sondern SV Preußen Berlin, SV Fortuna Magdeburg oder Lok Altmark Stendal.
Der Weg zurück in den Profifußball war lang und steinig, beinahe sogar wäre der Verein daran zerbrochen. Um die Jahrtausendwende herum pumpte Unternehmer Michael Kölmel über die Kinowelt AG zwar Geld in den FCM sowie in viele andere Klubs, 2001 aber ging das Unternehmen pleite. Das traf sämtliche Klubs wie ein Schlag. Der 1. FC Magdeburg musste Insolvenz anmelden.
Eine Ausnahme bei der Kinowelt-Insolvenz bildete der 1. FC Union Berlin, der mit Kölmel gesonderte Vereinbarungen traf, so noch über Jahre von dessen Millionen profitierte, sich sanierte und letztlich in die Bundesliga aufstieg. Der FCM hingegen musste im Zuge der Insolvenz in die Oberliga runter, dümpelte jahrelang unterhalb der Profiligen herum.
Erst 2015, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, kehrte der Klub in den Profifußball zurück. In der 3. Liga etablierte sich der Traditionsklub schnell, 2018 gelang schließlich der Aufstieg in die 2. Bundesliga. Es folgte der prompte Wiederabstieg und eine schwache Phase in der 3. Liga, ehe schließlich Titz übernahm.
Über zwei Jahrzehnte im Amateurfußball haben vor allem finanziell Spuren hinterlassen. "Wir fahren mit einem Trabi DTM", sagte FCM-Aufsichtsratsvorsitzender Matthias Niedung im Podcast "Einmal Immer". Offizielle DFL-Kennzahlen zeigen, dass in der 2. Liga einzig die drei Aufsteiger sowie Elversberg 2022/23 geringere Einnahmen erzielt haben.
Und doch hält sich der blau-weiße Kleinwagen im Duell mit all den Sportwagen wacker, lässt auch Gefährte mit deutlich mehr PS hinter sich. Ganz ohne Millionentransfers, teuerster Zugang der Vereinsgeschichte ist der im vergangenen Sommer für 800.000 Euro gekommene Martijn Kaars.
Niedung zieht zur Erklärung einen weiteren bildlichen Vergleich heran: "Wir sind eine leere Zitrone, die schon dreimal ausgepresst wurde, pressen die weiter aus und schaffen es trotzdem, uns im sportlichen Wettbewerb zu halten." Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach also blau-weiße Limonade draus.
In einer Region, die sich nicht durch übermäßig finanzstarke Unternehmen auszeichnet, wird dies vor allem durch eine Vielzahl an kleinen Sponsoren möglich. Auf der Vereinswebsite listet der FCM in vier Kategorien insgesamt 181 Partner auf, darunter finden sich lokale Umzugsfirmen, Supermärkte oder ortsansässige Banken. Die regionale Bindung ist enorm wichtig.
"Diese Stadt lebt Fußball, sie lebt den FCM. Diese Emotionalität, diese Hingabe über viele Jahre ist einzigartig, das ist unser Faustpfand", berichtet Martin Geisthardt, kaufmännischer Geschäftsführer des Klubs, im Podcast "Einmal Immer" mit Blick auf Fans und Partner.
Intel als Weltmarke bildet unter den Sponsoren eine Ausnahme, die geplante Chipfabrik in Magdeburg stellt aber eine Bindung her. Der FCM hat Intels Deutschland-Chefin Sonja Pierer zudem als externe Verstärkung in den Aufsichtsrat eingebunden.
Seine regionale Bindung versucht der Klub wiederum mehr und mehr zu zeigen. Er arbeitet enger mit dem SC Magdeburg, dem international erfolgreichen Handballverein, zusammen. Er lädt Schwimmstar Lukas Märtens, der bei Olympia Gold gewonnen hat und bekennender FCM-Fan ist, öffentlichkeitswirksam ins Stadion ein.
Und er hat in Niedung einen nahbaren Aufsichtsratsvorsitzenden, der selbst aus der Kurve kommt sowie gerne von Herthas verstorbenem Ex-Präsidenten Kay Bernstein spricht.
So sehr die Präsenz des Klubs in dem knapp zwei Millionen Einwohner starken Bundesland auch zu spüren ist. So verzückt die Vereinsführung ob des im Sommer aufgestellten Rekords von 14.950 verkauften Dauerkarten auch war. Mit rund 12.000 Mitgliedern hechelt der FCM seiner Konkurrenz aktuell noch deutlich hinterher. "Wir wollen mehr Mitglieder. Das ist ganz wichtig für unsere Weiterentwicklung. Mitglied zu sein ist nicht nur etwas für sich selbst, sondern für den ganzen Verein", appelliert Niedung an den blau-weißen Anhang.
In der Hinsicht ist noch reichlich Luft nach oben, um die beeindruckende Entwicklung der letzten Jahre, der letzten Jahrzehnte fortzusetzen. Rahmenbedingungen und Richtung stimmen. Dessen ist sich auch Geisthardt bewusst.
Trotz aller Demut denkt er für einen Augenblick daran, wie Kiel und Fürth sich in den vergangenen Jahren in die Bundesliga gearbeitet haben. "Wenn diese Standorte das schaffen", fragt der FCM-Geschäftsführer, "warum sollen wir das dann nicht auch mal schaffen, wenn die Sterne günstig stehen"? Eine echte Erfolgsgeschichte für den Ostfußball stellt die Entwicklung des 1. FC Magdeburg in jedem Fall schon jetzt dar.