Am späten Donnerstagnachmittag deutscher Zeit bekamen die kanadischen Medienschaffenden einen ersten Eindruck, was sie da künftig erwartet. "Ich bin hier, um Soccer zu spielen. Früher habe ich Football gespielt, nun spiele ich Soccer", verkündete Thomas Müller breit grinsend.
Es war ein Auftritt, wie man ihn schon hundert-, ach, tausendfach von der DFB-Legende gesehen hat: Flachsend, über sich selbst lachend, mit humorvollen Spitzen für seine Kollegen, klaren Worten zu seinen Zielen und einer Prise Charme für den bayrischen Caterer. Eine Sache aber war anders, und die war ganz entscheidend. Müller hielt am Ende nicht mehr das Trikot des FC Bayern in der Hand, sondern das der Vancouver Whitecaps.
Ein ungewohnter Anblick, wenngleich der Routinier selbst gar nicht so sehr fremdelt. "Weiß und Blau ist ja auch die bayerische Flagge – also keine Anpassungsschwierigkeiten", scherzte Müller nach der Verkündung des Transfers.
In der Nacht von Sonntag auf Montag darf er sich die Farben erstmals zum Arbeiten überstreifen. Im heimischen BC Place Stadium empfangen die Whitecaps Houston Dynamo, das Stadion ist ausverkauft. Sie alle kommen, um die DFB-Legende zu sehen.
Und Müller selbst? Der kommt nicht etwa, um exotische Stadionpunkte zu sammeln, sondern um seinen Trophäenschrank weiter zu befüllen:
In der Western Conference ist das Team Zweiter und damit auf dem besten Weg in die Play-offs. Dabei könnten die Whitecaps dank des MLS-Modus sogar zwei Titel abräumen: Den Supporters' Shield als bestes Team der regulären Saison und anschließend den MLS Cup als Gewinner der Play-offs.
Und sogar eine dritte Trophäe ist in diesem Jahr möglich, denn in der Canadian Championship stehen die Whitecaps im Halbfinale. Die jüngsten drei Ausgaben hat das Team bereits gewonnen, ein vierter Titel in Folge wäre Rekord.
Es wäre ein Einstand ganz nach dem Geschmack von Müller, der gleichauf mit Toni Kroos Deutschlands erfolgreichster Fußballer der Geschichte ist. Und zugleich hätte er dann in Nordamerika auch wieder das geschafft, was in Deutschland eine Selbstverständlichkeit war: Er hätte wieder mehr nationale Titel als Marco Reus.
Die BVB-Legende hatte mit LA Galaxy schließlich auf Anhieb den MLS Cup gewonnen.
Reus wird auf dem Weg zum Titel wohl keine Hürde mehr darstellen, denn Titelverteidiger LA Galaxy ist abgeschlagenes Schlusslicht der Western Conference. Zu den großen Favoriten zählt hingegen Inter Miami, Vorjahressieger des Supporters' Shield. Der Status des Florida-Klubs ist dabei vor allem auf einen Mann zurückzuführen: Lionel Messi.
"Für jeden Fußballer ist es ein tolles Erlebnis, gegen die Mannschaften von Messi zu spielen", blickte Müller bereits auf ein mögliches Duell mit dem achtfachen Weltfußballer voraus. "Es macht am meisten Spaß, die Besten zu schlagen. Das habe ich in meiner Karriere bei Bayern und bei der Nationalmannschaft immer wieder erlebt."
Tatsächlich hat Müller dem Argentinier einige der schmerzhaftesten Niederlagen seiner Karriere zugefügt. 2010 glänzte er beim 4:0-Sieg vom DFB-Team im WM-Viertelfinale, vier Jahre später gewann Deutschland auch das WM-Endspiel. Und 2020 erlebte Messi beim 2:8 gegen Müllers Bayern wohl seine größte Schmach im Barcelona-Dress.
Ein Wiedersehen ist aufgrund der unterschiedlichen Conferences erst in den Play-offs möglich. Wirklich hollywoodreif wäre freilich ein Finalduell.
Ein erneutes Duell im Rahmen einer Weltmeisterschaft wird es hingegen nicht geben. Denn anders als Messi, der auch mit 38 Jahren noch für Argentinien aufläuft, ist Müller beim DFB-Team bereits zurückgetreten. Und doch dürfte er rund um das Nationenturnier präsent sein.
Die WM findet schließlich vor seiner Haustür statt. Gastgeber ist neben den USA und Mexiko schließlich auch Kanada mit den zwei Austragungsorten Toronto und Vancouver.
In den Tagen seit seiner Verpflichtung hat Müller in ganz Kanada bereits einen echten Hype ausgelöst. Die Trikotverkäufe sind derart in die Höhe geschossen, dass die Whitecaps einen Rekordumsatz erzielten und die Shirts momentan ausverkauft sind. Auch der Ticketandrang ist enorm, zum Debüt wird das BC Place Stadium ausverkauft sein.
Axel Schuster, Geschäftsführer in Vancouver, hat derartiges in seinen sechs Jahren im Verein noch nicht erlebt. "Wir wollen so lange wie möglich auf diesem Hype-Train bleiben", sagte Müller bei seiner Präsentation selbst. Er blickte dabei vor allem auf die Titelambitionen, dürfte aber auch das Drumherum im Kopf haben.
Denn jeder große Name in der MLS ist stets auch mit gewissen Erwartungen verbunden. Dass er die Entwicklung, die Popularität vom Fußball, ähm: Soccer, weiter vorantreibt. Die Erfolge waren dabei in der Vergangenheit eher durchwachsen. Bei Müller halten wir daher den Ball flach: Er muss einfach nur bis zum nächsten Sommer die Fußballeuphorie nördlich des Eriesees aufrechterhalten.
Das geht einerseits mit guten Leistungen auf dem Platz, klar. Das muss man einem Müller gewiss nicht erklären, nicht umsonst hat er immer wieder auf seine Titelambitionen hingewiesen. Ein echter Fußballbotschafter wirkt aber auch abseits des Platzes.
Da trifft es sich, dass die DFB-Legende dort mindestens genauso viel Talent besitzt wie auf dem Rasen. Kaum ein Profi hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten so verlässlich klare Analysen mit Entertainment verbunden wie Müller. Selbst auf Englisch feuert er ungehemmt seine Sprüche ab – und trifft dabei immer wieder ins Schwarze.
Wie kann man beim Anblick dieses schelmischen Grinsens, garniert mit einem garantiert urkomischen Spruch, also tatsächlich noch der Meinung sein, Deutsche hätten keinen Humor? Dieses Klischee muss in Vancouver ein für alle Mal ein Ende nehmen.
Zumal Müller gewiss nicht helfen wird, mit einem anderen Klischee über Deutsche aufzuräumen: Nein, wir tragen nicht alle Lederhosen, essen nicht alle Leberkäse und reden nicht alle so komisch. Das sind nur die Bayern.
Das sind ganz schön viele To-dos zum Start in einer neuen Mannschaft, einer neuen Liga, einem neuen Land, auf einem neuen Kontinent. Aber Müller ist nun einmal ein ehrgeiziger Mensch – ansonsten wäre er wohl nicht so erfolgreich.
Und trotzdem muss der Routinier sich auch mal genehmigen, die Vorzüge seiner neuen Heimat zu genießen. Zahlreiche Leute hätten ihm bereits gesagt, wie schön es in Vancouver und der Umgebung ist, erklärte er lachend. Nicht zuletzt bei seiner Präsentation war dies erneut Thema. Aber das sind keine Phrasen, die Natur ist tatsächlich überwältigend.
"Es ist ein Abenteuer, das über das Sportliche hinausgeht. Es ist eine Lebenserfahrung", sagte Florian Jungwirth im watson-Interview. Müller hat sich beim Ex-Whitecaps-Profi vorab einen Rat abgeholt. Jungwirth brachte es dabei auf den Punkt: "Er soll es genießen!"