Es ist eine ungewohnte Situation für den FC Bayern. Weihnachten steht vor der Tür und der Rekordmeister grüßt tatsächlich nicht von seinem heiß geliebten Stammplatz an der Bundesliga-Tabellenspitze. Dort thront derzeit Bayer Leverkusen, das ein Spiel mehr absolviert und vier Punkte Vorsprung hat.
"Wir müssen jetzt nochmal all unsere Kräfte mobilisieren, um endlich an die Tabellenspitze zu kommen", hatte Thomas Müller in seinem Newsletter Anfang Dezember gefordert. Hat der Rekordmeister also klar versagt? Wie ist diese Hinrunde, die offiziell noch gar nicht beendet ist, mit all seinen Auf und Abs insgesamt zu bewerten?
Es ist wahrlich kein leichtes Unterfangen. Mit fünf Lehren, die wir aus dem ersten Halbjahr der Saison gezogen haben, versuchen wir uns aber einer Bewertung anzunähern.
Als Louis van Gaal 2009 das Traineramt in München übernommen hat, stellte dies den Beginn einer Ära dar. Der Niederländer impfte den FCB-Profis seinerzeit Ballbesitzfußball ein. Jupp Heynckes erweiterte das Repertoire, Pep Guardiola perfektionierte es.
Tiki-Taka sollten die Münchener nach dem Abschied des Katalanen nicht mehr spielen, über Jahre definierten sie sich aber trotzdem über den eigenen Ballbesitz. Gegner zu dominieren und über 60 Prozent der Zeit die Kugel in den eigenen Reihen zu haben, gehörte gewissermaßen zum Selbstverständnis. Es wurde zum Teil des "Mia san Mia".
Eine grundsätzliche Abkehr davon zu proklamieren, wäre nun falsch. Mit einem durchschnittlichen Ballbesitz von 59 Prozent sowie einer Passquote von 89,8 Prozent sind die Bayern in dieser Hinsicht weiterhin Bundesliga-Primus. Und doch hat sich gerade in den vergangenen Wochen mehr und mehr herauskristallisiert: Es geht auch anders.
Denn Thomas Tuchel hat seine Profis das Kontern gelehrt. Deutlich wurde dies in der Liga gegen Köln und Dortmund, in der Champions League bei Galatasaray. Ganz frisch in der Erinnerung ist zudem das Heimspiel gegen den VfB Stuttgart. Der Rekordmeister hatte lediglich 37 Prozent Ballbesitz, kontrollierte die Partie mit seinem Mittelfeldpressing aber komplett und siegte letztlich auch in der Höhe verdient mit 3:0.
Gerade in den Topspielen haben die Münchener damit eine neue Waffe. Wie gut sie diese einzusetzen wissen, zeigt auch eine weitere Statistik: Der FCB steht bereits bei sechs Kontertoren – Höchstwert der Bundesliga!
Im Laufe der Vorsaison zeichnete sich ab, dass die Bayern nach dem Abgang von Robert Lewandowski einen neuen Mittelstürmer brauchen würden. Daran änderte auch das zwischenzeitliche Formhoch von Eric Maxim Choupo-Moting nichts. Schnell wurde dabei klar, wer der Auserwählte ist: Harry Kane.
Die Verhandlungen mit Tottenham zogen sich wie ein Kaugummi, Mitte August war es dann aber so weit. Für knapp 100 Millionen Euro sicherten sich die Münchener die Dienste des englischen Nationalkapitäns. Welch absurde Summe für einen 30-Jährigen, schimpften die Kritiker:innen damals. Vier Monate später sind diese verstummt.
Absurd sind jetzt vor allem Kanes Statistiken. In 22 Partien für die Bayern hat er unfassbare 25 Tore und acht Vorlagen gesammelt. Allein 21 dieser Treffer hat der Engländer in der Bundesliga erzielt. Lewandowski, der 2020/21 41 Saisontore bejubelt hat, muss ernsthaft um seinen Rekord bangen.
Dabei ist es nicht einmal fair, Kane nur auf seine Treffer zu reduzieren. Oft genug lässt er sich ins Mittelfeld zurückfallen, agiert dann als verkappter Spielmacher. Davon hat speziell Leroy Sané profitiert, der mit seinem Tempo in jene Räume sprinten kann, die Kane durch sein Zurückfallen öffnet.
Der 30-Jährige garantiert also nicht nur eine gewisse Torquote, er macht die komplette Offensive besser. Und damit die ganze Mannschaft. Im Umkehrschluss zeigt sich bereits eine gewisse Abhängigkeit. Ohne Kane sind die Bayern aus dem DFB-Pokal ausgeschieden. Ohne ihn spielten sie auch über weite Strecken des Supercups, als der FCB RB Leipzig 0:3 unterlag.
Die Hinrunde der Bayern brachte so einige Enttäuschungen mit sich. Neben den Pleiten im Supercup sowie im DFB-Pokal sticht das 1:5-Debakel in Frankfurt heraus. Aber auch abseits des Platzes gab es immer wieder Aufregung. Tuchels öffentliche Forderungen nach Verstärkungen, die Beinahe-Rückholaktion von Jérôme Boateng, die Zusammenarbeit mit dem diktatorisch geführten Ruanda.
All diese Meldungen könnten den Anschein erwecken, dass es ein furchtbares FCB-Halbjahr war. Dem ist aber nicht so. In der Champions League sind die Bayern mit 16 von 18 möglichen Zählern einmal mehr souverän in die nächste Runde eingezogen. In der Bundesliga haben sie nach 15 absolvierten Partien starke 38 Zähler auf dem Konto.
Eine derart gute Ausbeute gab es letztmals unter Guardiola, damals zeigte sich die Offensive aber weniger produktiv. Die 49 geschossenen Tore sind nach 15 Spielen der zweitbeste Wert der Vereinshistorie. Wäre da nicht Bayer Leverkusen, so würden die Münchener sämtliche Konkurrenten wieder weit hinter sich lassen. Und alle Zuschauenden würden entnervt feststellen, wie langweilig die Bundesliga doch ist.
Schon im Sommer betonte Tuchel in aller Öffentlichkeit, dass er mit der Zusammenstellung des Kaders nicht in Gänze zufrieden sei. Es fehle an der Breite, gerade in der Defensive. Dort trennte sich der Rekordmeister immerhin von den Allroundern Lucas Hernández, Benjamin Pavard und Josip Stanišić.
Der Coach wurde seinerzeit nicht erhört, schon früh in der Saison sollte sich das aber ändern. Beim Pokalspiel in Münster agierte der FCB verletzungsbedingt ohne gelernten Innenverteidiger. Mit dem neuen Sportdirektor Christoph Freund hat Tuchel nun zudem einen Fürsprecher im Klub.
Übereinstimmenden Medienberichten zufolge werden die Münchener im Winter reagieren, ein neuer Innenverteidiger genieße Priorität. Eventuell wird es auch ein Allrounder, der zudem rechts verteidigen kann. Dort musste in den vergangenen Wochen oftmals Konrad Laimer, ein gelernter zentraler Mittelfeldspieler ran.
Eine gewisse Dringlichkeit herrscht in der Defensive auch wegen der anstehenden Kontinentalmeisterschaften. Min-jae Kim nimmt mit Südkorea an der Asienmeisterschaft teil, Noussair Mazraoui wollte mit Marokko beim Afrika-Cup starten. Der Rechtsverteidiger fehlt aktuell aber verletzt. Zum Jahresbeginn müssen die Bayern somit in jedem Fall ohne ihn planen.
Tuchels Herzensangelegenheit, ein neuer Sechser, wird im Januar indes wohl nicht realisiert. Die gehandelten Kandidaten, vornehmlich Martín Zubimendi und João Palhinha, dürften das Winterbudget sprengen. Womöglich bedarf es aber auch gar keiner externen Verstärkung.
In Abwesenheit der erkrankten Joshua Kimmich und Leon Goretzka wusste Aleksandar Pavlović seine Chance zu nutzen. Der 19-Jährige hat zwar erst sechs Spiele als Profi absolviert, überzeugt aber schon jetzt mit einer gewissen Ruhe am Ball. Vor allem aber überzeugt er mit einer größeren Positionstreue als seine Kollegen.
Pavlović sicherte gerade gegen Stuttgart hervorragend ab, während seine Mitspieler zum Konter ausströmten. Dem Profil der von Tuchel skizzierten "Holding Six" kommt er damit am nächsten. Obendrein weiß er gefährliche Standards zu schlagen, bereite in fünf Ligaspielen bereits zwei Tore vor.
Unter dem Strich lässt sich festhalten, dass die Bayern-Hinrunde deutlich besser daherkommt, als sie über weite Strecken bewertet wurde. Einzelne Baustellen und Luft nach oben gibt es dennoch, die Erkenntnis scheint aber auch intern vorhanden zu sein.
FCB-Fans dürfen sich somit auf eine spannende zweite Saisonhälfte freuen. Und alle neutralen Zuschauenden auf einen womöglich packenden Titelkampf in der Bundesliga.