Eigentlich hätte bei den Olympischen Spielen der Siegeszug von Simone Biles weitergehen sollen. Die US-Turnerin gewann 2016 in Rio fünf Medaillen, davon viermal die goldene. Zumindest im Team-Mehrkampf und im Einzel-Mehrkampf wird keine dazukommen. Die 24-Jährige sagte ihre Teilnahme ab. Der Grund: Ihre mentale Gesundheit.
Sie selbst sagte: "Die mentale Gesundheit steht an erster Stelle. Daher ist es manchmal in Ordnung, die großen Wettbewerbe sogar auszusitzen, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. Es zeigt, wie stark du als Wettkämpfer und Person wirklich bist, anstatt sich einfach durchzukämpfen." Ob sie bei den Einzel-Finals ab Sonntag teilnimmt, ist noch offen. Der US-Turnverband teilte mit, dass Biles täglich bewertet werde, "um herauszufinden, ob sie in den Einzel-Finals in der kommenden Woche teilnehmen kann."
Biles steht mit dem öffentlichen Umgang ihrer mentalen Verfassung nicht allein da. Tennisspielerin Naomi Osaka hatte sich im Juni von den French Open zurückgezogen. Der Grund: Depressionen. Für Sportpsychologe Janosch Daul sind beide wichtige Akteurinnen, um den Umgang mit mentalen Erkrankungen in der Öffentlichkeit zu verbessern.
Daul erklärt gegenüber watson: "Sowohl Simone Biles als auch Naomi Osaka sind absolute Vorbilder, gerade für die junge Generation, in Bezug auf ihren verantwortungsbewussten Umgang mit sich selbst. Nämlich bewusst die Notbremse zu ziehen und, gefangen in ihrem Leid, nicht einfach wie eine Maschine weiterzumachen. Der Schlüssel für das Wohlergehen und auch die (sportliche) Leistungsfähigkeit eines Menschen ist immer die psychische Gesundheit."
Gerade für Nachwuchs-Sportler und -Sportlerinnen sei der offene Umgang der Top-Athletinnen mit mentalen Problemen wichtig: "Sie sind Vorbilder, weil sie sich selbst reflektiert und sich zu ihren Problemen bekannt haben. Es erfordert unheimlichen Mut, zu erkennen, dass der Rucksack zu schwer ist und man im Sinne der eigenen Gesundheit aussteigen sollte."
Auch Teresa Enke zollt beiden Respekt. Die Vorstandsvorsitzende der Robert-Enke-Stiftung sagt: "Gerade bei den Turnerinnen weiß man ja, dass da ein enormer Druck ist. Das war ja schon immer so. Dass da jemand sagt, ich kann nicht mehr, ich muss mich selbst schützen, ich muss meine Mannschaftskolleginnen schützen, finde ich wahnsinnig toll und stark."
Obwohl mit Biles und Osaka zwei Top-Sportlerinnen über ihre psychischen Probleme gesprochen haben, ist der Umgang mit mentalen Erkrankungen nicht geschlechterspezifisch. Daul erklärt: "Auch Männer haben sich schon oft geäußert und ihre mentalen Probleme in die Öffentlichkeit getragen." Als Beispiel nennt er Fußball-Profi Hector Bellerin, der bei Arsenal London spielt und über die psychischen Probleme und die Rolle des Alkohols gesprochen hat.
Sportpsychologe Daul berichtet von verschiedenen Risikofaktoren, die eine mentale Erkrankung begünstigen. Unter anderem könnten kritische Lebensereignisse dazu beitragen. Von diesen Ereignissen gibt es in der Vita von Biles leider genug. Im Januar 2018 sprach sie öffentlich über den sexuellen Missbrauch durch den ehemaligen US-Teamarzt Larry Nassar und erzählte von Depressionen. Hinzukommt, dass ihr Bruder jahrelang unter Mordverdacht stand, kürzlich aber freigesprochen wurde und, dass der Erfolgs-Druck einer ganzen Nation auf Biles ruhte.
"Es gibt noch weitere Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Erkrankungen wie beispielsweise Perfektionismus oder die Ausübung bestimmter Sportarten, die besondere Anforderungen an Athleten in Bezug auf ihr Gewicht und ihre Körperform stellen. Gerade bei ästhetischen Sportarten ist es oftmals vorgekommen, dass Trainer ihre Athletinnen beschimpft und ihnen vorgeworfen haben, dass sie zu dick seien", sagt Sportpsychologe Daul.
Grundsätzlich ist bei psychischen Erkrankungen nicht immer der Weg an die Öffentlichkeit der richtige. Es sei wichtig, dass die betroffene Person selbst erkenne, dass es ihr mental nicht gut gehe, erklärt Daul. Ob die Krankheit dann öffentlich kommuniziert werden soll, muss individuell betrachtet werden. "Psychische Erkrankungen werden noch immer zu sehr stigmatisiert. Durch den oftmals wenig konstruktiven Umgang der Öffentlichkeit mit diesen können für den Sportler weitere Belastungen entstehen. Eine Depression wird beispielsweise im Vergleich zu einem Kreuzbandriss oftmals noch nicht ernst genug genommen."
Insgesamt sieht Daul noch großen Verbesserungsbedarf beim Handeln der Trainer. Oftmals stehe die maximale Leistungsfähigkeit und die schnellstmögliche Entwicklung des Sportlers noch im Vordergrund. Das Wohlbefinden der Athleten bleibe noch zu oft auf der Strecke. Daul fügt an: "Nach dem Selbstmord von Robert Enke hat sich das Spitzensportsystem kurzzeitig mit dem Thema psychische Gesundheit beschäftigt, aber insgesamt fehlt es an einer ernsthaften Auseinandersetzung."
Damit sich Dramen wie die von Robert Enke nicht wiederholen, formuliert Daul gegenüber watson einen expliziten Wunsch: "Wir alle – die Gesellschaft, die Medien und alle, die im Leistungssportsystem arbeiten – sollten dahin kommen, nicht den Sportler, sondern primär den Menschen dahinter zu sehen. Psychische Erkrankungen müssen in der Gesellschaft genauso anerkannt werden wie körperliche. Unser aller Handeln sollte zunächst auf die Erhaltung der psychischen Gesundheit des Athleten ausgerichtet sein, die letztlich auch die Grundlage für die Leistungserbringung darstellt."
Simone Biles und Naomi Osaka haben mit dem öffentlichen Thematisieren mit ihren mentalen Problemen dafür ein Zeichen und eine Grundlage gelegt.
(mit Material von dpa)