Lucien Favre ist seit 2018 Cheftrainer von Borussia Dortmund, und in zwei Spielzeiten kassierte sein Team mit mindestens 41 Gegentoren jeweils die meisten in der Top drei der Bundesliga-Abschlusstabelle. Zweimal wurden die Schwarz-Gelben unter dem Schweizer Coach Vizemeister hinter Bayern München beziehungsweise vor RB Leipzig.
Dortmund hat mit Favre zwar vom Punkteschnitt her seinen besten Trainer aller Zeiten (2,15 Punkte pro Spiel) auf der Bank sitzen, doch die Diskussion über die Defensivleistung seines Teams ist stets groß. Favre probiert entsprechend viel aus, um die Abwehr zu verbessern.
In der vergangenen Saison festigte Favre seine Defensive zwar ein wenig, indem er eine Dreier- beziehungsweise Fünferkette spielen ließ. Aber der Romand fremdelt mit dieser taktischen Grundordnung. Er ist eigentlich Befürworter der Viererkette. Die testete er im Sommertrainingslager in seiner Heimat. Aber das gelang nicht so recht, Favre warf den Plan wieder über den Haufen und stellte zurück auf Dreierkette.
Aufgrund vieler Verletzungen (aktuell fallen Zagadou, Hummels, Can aus) kehrte der Trainer nun abermals zu seiner geliebten Viererkette zurück. Und siehe da, endlich beweist der BVB eine fast verloren geglaubte Qualität: die Defensivstärke. Woran es liegt? "Es liegt an allen. Es fängt vorne an, wenn du keinen Stürmer hast, der verteidigt, geht es nicht. Es ist die ganze Mannschaft, die verteidigen muss. Wir machen das gut momentan", sagte Favre.
Die Borussia verspürt Rückenwind. Während die Abwehr beispielsweise gegen Lazio Rom und den FC Augsburg wackelte, gelangen zuletzt vier Zu-Null-Siege in Serie. In der gesamten Saison gelang das sogar schon achtmal in elf Pflichtspielen. Wie zuvor gegen Hoffenheim (1:0), den FC Schalke (3:0), Zenit St. Petersburg (2:0) und Arminia Bielefeld (2:0) blieb der Bundesligazweite auch am Mittwoch im Champions-League-Spiel gegen Brügge (3:0) ohne Gegentor.
Selbst der nach dem Ausfall von Abwehrchef Mats Hummels nötige Umbau der wieder eingeführten Viererkette kostete kaum Stabilität. "Im neuen System mit der Viererkette fühlen wir uns wirklich wohl. Manchmal hilft ein kleiner Wechsel und es läuft besser", erklärte Innenverteidiger Manuel Akanji nach dem Brügge-Spiel bei Sky, der eine starke Leistung zeigte.
Noch besser machte es Hummels-Ersatz Axel Witsel. Akanji war zufrieden mit seinem neuen Nebenmann: "Er wusste, wo er stehen soll. Ich musste ihm nicht groß helfen. Mir hat das sehr gut gepasst, neben ihm zu spielen." Der 31-Jährige schlug sich bei seinem ersten Einsatz als Innenverteidiger auf ungewohnter Position erstaunlich gut. Das brachte dem Belgier auch ein Extralob seines Trainers ein: "Axel hat sehr clever gespielt. Mit seiner Leistung bin ich sehr zufrieden."
Aushilfsabwehrboss Witsel gefiel. Der gelernte Mittelfeldspieler brachte 92 Prozent der Pässe zum Mitspieler und gewann 75 Prozent seiner Zweikämpfe. Und damit ist er auch im Spitzenspiel gegen Bayern München am Samstag (18.30 Uhr/Sky) eine ernsthafte Option.
Zwar hoffen alle beim Vizemeister vorsichtig optimistisch auf die Rückkehr von Hummels (Oberschenkelverletzung). Eine Entscheidung soll am Freitag fallen. Aber es scheint, als bereitete nicht einmal der Ausfall des erfahrensten und besten Innenverteidigers dem BVB gerade große Sorgen.
Und so hofft die Borussia auf eine Fortsetzung des Höhenflugs im Spiel gegen den punktgleichen Tabellenführer, wie auch immer die Viererkette dann aussehen wird: "Wir wissen, dass wir zu Hause gegen Bayern gewinnen können. Das haben wir mehrfach bewiesen. Das ist auch das Ziel für Samstag", formulierte Akanji bei Sky.
Solch forschen Töne waren von Dortmunder Seite unmittelbar vor einem Showdown der Bundesliga-Topteams schon lange nicht mehr zu hören. Aber die neu gewonnene Stabilität in der Defensive macht dem Team offenbar Mut. Und sie macht dem neutralen Zuschauer auch Hoffnung, dass es mal wieder ein spannendes Spiel wird. Die vergangenen drei Aufeinandertreffen in der Bundesliga gingen jeweils an die Bayern, meistens deutlich (0:1, 0:4, 0:5).
Ob der BVB am Ende dieser Saison einen Tabellenplatz weiter oben erreicht als in den vergangenen beiden Spielzeiten unter Favre, das steht gewiss noch in den Sternen. Sicher scheint aber schon jetzt: Über 41 Gegentore werden es in dieser Verfassung nicht wieder werden.
(as/mit dpa und sid)