Die Blicke vieler Fußball-Fans richteten sich am vergangenen Sonntag nach Norwegen. Die Skandinavier haben zwar mit Erling Haaland, Alexander Sörloth und Martin Ödegaard begeisternde junge Offensivstars, doch diese standen an diesem Tag nicht im Mittelpunkt. Viel mehr zog eine Abstimmung beim Verbandstag des norwegischen Fußballs große Aufmerksamkeit auf sich.
Top-Klubs wie Tromsö IL, Rekordmeister Rosenborg Trondheim und weitere Vereine und Fan-Organisationen hatten sich für einen Boykott der Fußball-WM in Katar 2022 ausgesprochen. Auch Spieler wie Tore Reginiussen vom deutschen Zweitligisten FC St. Pauli machten sich für einen Boykott des Turniers stark.
"Es würde sehr, sehr lange dauern, wenn man das diskutieren würde. Aber ich stehe hinter dieser Entscheidung", machte der norwegische Nationalspieler gegenüber der "Hamburger Morgenpost" deutlich.
Untermauert wurden diese Forderungen von einem Bericht der englischen Tageszeitung "Guardian", die Zahlen aus katarischen Regierungskreisen veröffentlichte. Demnach sollen mehr als 6500 Arbeitsmigranten in den vergangenen zehn Jahren auf den Baustellen, die mit der WM zu tun haben, gestorben sein.
"Ich fürchte, diese hohe Zahl stimmt", sagt Regina Spöttl, Katar-Expertin von Amnesty International Deutschland gegenüber watson. Zuvor hatte Katar diese Zahl als "irreführend" bezeichnet. FIFA-Präsident Infantino sagt, es wären seit 2014 lediglich drei Arbeiter gestorben. "Es ist sehr schwierig zu überprüfen, wie viele Todesfälle es im Umfeld der WM gegeben hat und welche die Ursachen dafür waren. Katar hat keine offiziellen Daten dazu veröffentlicht", so Spöttl.
"Auch die Botschaften der Entsendeländer der Arbeitsmigranten wie Indien, Nepal oder Bangladesch gaben bei ungeklärten Todesfällen einfach 'Herzinfarkt' oder 'natürliche Ursache' an." Hier fordert Amnesty jedoch eine Aufklärung, um die Ursache für weitere Todesfälle zu bekämpfen. Aktuell arbeiten laut Spöttl über 2,3 Millionen Arbeitsmigranten in dem Wüstenemirat.
Doch trotz der zahlreichen Todesfälle stimmten bei der norwegischen Jahreshauptversammlung "Footballting" nur 61 Vertreter dafür, die Debatte über einen Verzicht bei der Weltmeisterschaft auf die Tagesordnung zu setzen. 146 waren dagegen. Nötig wäre eine Zweidrittelmehrheit gewesen.
Während man in Norwegen noch uneinig ist, veranlasste die Zahl der Todesopfer den renommierten niederländischen Sportrasenhersteller Hendriks Graszoden dazu, seine Lieferung an die FIFA zu stornieren. Die Zahl der Todesfälle habe die Firma "enorm erschrocken", hieß es.
Auch in Deutschland üben die Fans immer mehr Druck auf den Deutschen Fußball-Bund (DFB) aus und fordern einen Boykott der ersten Weltmeisterschaft in einem arabischen Land. Zwar sei sich die Fan-Vereinigung "ProFans" der Bedeutung des Turniers für die Sportler bewusst, dennoch fordern sie einen Boykott des DFB. "Es gibt nichts, was es rechtfertigen könnte, die Menschenrechtsverletzungen in Katar hinzunehmen, ja, gar durch die Teilnahme am Turnier wissentlich, billigend zu unterstützen. Wir fordern den DFB auf, die Teilnahme an der WM in Katar abzusagen", erklärten sie in einer Mitteilung.
Dass den Arbeitern vor Ort durch einen Boykott geholfen wird, glaubt Katar-Menschenrechtsexpertin Spöttl aber nicht. "Amnesty International hat noch nie einen Boykott gefordert." Damit hält es die Menschenrechtsorganisation wie der norwegische Fußball-Verband oder auch der DFB.
"Amnesty setzt auf Aufdeckung und Sichtbarmachung der Missstände und den Dialog mit allen Beteiligten. Katar hat sich durchaus gesprächsbereit gezeigt und Reformen angestoßen", sagt Regina Spöttl. Zudem würde ein Boykott die Lage der Arbeitsmigranten womöglich nur verschlimmern. So gab es in den vergangenen Jahre Fälle, in denen eine Firma keine Arbeit mehr hatte, und die Arbeitsmigranten ohne Pässe, ohne Aufenthaltsgenehmigung und ohne Geld im Land zurückließ. "Es gibt Fortschritte und mit einem Boykott würden diese um Jahre zurückgeworfen werden", verdeutlicht Spöttl von Amnesty International.
Seit der Vergabe des Turniers im Jahr 2010 steht das Wüstenemirat in der Kritik: Korruption rund um die Vergabe, die klimatischen Bedingungen, wodurch das Turnier nun im Winter 2022 stattfinden wird und vor allem die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und ausbleibenden Lohnzahlungen, denen sich die über zwei Millionen Arbeitsmigranten vor Ort ausgesetzt sehen, werden thematisiert. Die Bilder der Elendsquartiere, zu sehen beispielsweise in einer Dokumentation des WDR aus dem Jahr 2019, zeigten verdreckte Toiletten, tote Kakerlaken und Zimmer, die nur wenige Quadratmeter groß sind, aber in denen sechs bis acht Menschen leben.
Zudem gibt es Kritik am Kafala-System, bei dem die Ausweise und Reisepässe der Arbeitsmigranten vom Arbeitgeber eingezogen werden. Ohne Zustimmung des Arbeitgebers dürfen die Arbeiter ihren Job nicht wechseln oder ausreisen.
Zwar kündigte Katar bereits 2014 an, das Kafala-System abzuschaffen, doch bisher wurde es nur aufgeweicht. Es gäbe nun Komitees, die sich mit Arbeitsstreitigkeiten bei ausbleibenden Lohnzahlungen beschäftigen würden. Die Arbeiternehmer dürfen sich nun auch Jobs bei anderen Firmen innerhalb des Landes suchen und ohne Zustimmung ausreisen. Doch laut Amnesty International Deutschland habe gerade die Ausreisebestimmung für Proteste einheimischer Firmen gesorgt. So spiele die katarische Regierung mit der Überlegung, diese Regelung wieder zu kippen.
"Es gibt auch Mustersiedlungen, die für rund 150.000 Arbeiter gebaut wurden. Dort herrschen sehr gute Bedingungen. Aber für 2,3 Millionen Arbeitsmigranten, die momentan im Land sind, ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein", erzählt Spöttl.
Für Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge scheint alles kein Problem zu sein. "Das ist eine andere Kultur", sagte er Anfang Februar im "Aktuellen Sportstudio" im ZDF. Die Münchner nahmen erst kürzlich an der Klub-Weltmeisterschaft in Katar teil, zudem ist die staatliche Fluggesellschaft "Qatar Airways" Platin Partner des FC Bayern. Auch Rekordnationalspieler Lothar Matthäus kann die Kritik an Katar nicht mehr nachvollziehen. Es werde "immer etwas gesucht, um den WM-Austragungsort schlecht zu machen", sagte er bei "Sky90".
"Das ist leider ein bisschen zu einfach gedacht. Jede Kultur kann die Menschenrechte achten", sagt die Katar-Expertin von Amnesty und hat auch gleich einen Vorschlag. "Sportfunktionäre, Spieler und andere Beteiligte müssen sich einsetzen. Verbände können sich mehr einbringen, indem sie ihren Gesprächspartnern in Katar die Probleme nahebringen." Und sie macht deutlich, welchen Einfluss der Fußball haben könnte. "Der Fußball ist ein weltweites Phänomen. Er kann Brücken bauen und dazu beitragen, die Lage der Arbeiter zu verbessern."
Und so hofft Amnesty, dass Katar mit seinen Reformen in der arabischen Welt als positiver Vorreiter wirken kann. Denn zum Beispiel auch das Nachbarland Saudi-Arabien versucht sich für die westliche Sportwelt immer weiter zu öffnen. "Wenn Katar das Kafala-System endgültig abschafft und eine gute und faire Arbeitsgesetzgebung hat, kann es eine ganz besondere Rolle einnehmen", sagt Regina Spöttl.