In einem Biergarten in Berlin wird Fußball geschaut. Die EM läuft. Wenige Minuten vor Anpfiff nimmt Tabea Sellner auf einer Bank Platz. Sie hat sich das weiße DFB-Heimtrikot übergestülpt, die Haare zu einem Dutt hochgebunden. In ihren Armen liegt ihr Sohn, wohlbehütet und fest umschlungen.
Für eine Sekunde wendet sie den Blick von ihm ab, hinein in die Tiefen des Biergartens. Dann: Mit nur zwei Handgriffen zieht sie ihr Trikot hoch und führt "den kleinen Mann" an ihre Brust. Ein intimer Moment in der Öffentlichkeit.
Öffentliches Stillen ist in Deutschland nicht verboten, aber die Sache polarisiert, weil es um nackte Brüste von Frauen geht. Jüngst wurde die Frau eines Fußballspielers aufgefordert, das Stadion-Restaurant zum Stillen zu verlassen. Ein Mann fühlte sich belästigt.
Tabea Sellner, noch besser bekannt unter ihrem Mädchennamen Waßmuth, ist frisch gebackene Mutter. Seit der Geburt ihres Sohnes kommt auch sie nicht drumherum, in der Öffentlichkeit zu stillen.
Damit sich stillende Mütter wie Sellner in einem Berliner Biergarten wohlfühlen, hat die Femtech-Marke "Elvie" eine Petition ins Leben gerufen. Darin fordert sie die Bundesfamilienministerin auf, öffentlich stillende Mütter gesetzlich zu schützen. Tabea Sellner ist Botschafterin der Petition.
Für gewöhnlich ist Sellner Profifußballerin. Zur Saison 2021/22 wechselte die damals 24-Jährige von der TSG Hoffenheim zum VfL Wolfsburg.
Der Startschuss einer Erfolgsgeschichte: In ihrer ersten Saison traf sie wettbewerbsübergreifend so häufig, wie sonst keine von ihren Teamkolleginnen. In 37 Partien erzielte sie 24 Tore, davon zehn in der Champions League. Bei der Europameisterschaft 2022 betrat sie viermal den englischen Rasen und reiste schlussendlich mit einer Silbermedaille nach Hause.
Der Höhepunkt ihrer Karriere: "Es war verrückt. Ich glaube, wir haben in England gar nicht realisieren können, was für ein Hype um uns entstanden ist."
Dann, etwa zehn Monate nach dem EM-Finale in Wembley, beendet der VfL Wolfsburg die Bundesliga-Saison auf Platz zwei – zu dem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, dass es ihr vorerst letztes Spiel für den VfL Wolfsburg sein wird.
Im September 2023 verkündete ihr Verein die erfreuliche Botschaft: Tabea Sellner wird Mutter. Die 27-Jährige hat sich einen Herzenswunsch erfüllt: "Ich wollte schon immer früh Mutter werden", sagt Sellner im Gespräch mit watson beseelt. Auch bei ihrem Partner sei der Wunsch gereift, ein Kind zu bekommen. "Wir haben es probiert, und es hat geklappt", verrät sie.
Doch bekanntlich liegen Freud und Leid nah beieinander. "Natürlich war mir bewusst, dass es auch ein Einschnitt in meiner Karriere ist", sagt sie, "man weiß nie, ob alles klappt und ob man überhaupt wieder zurück aufs Feld kommt". Und auch als Sellner ihrem Verein von der Schwangerschaft erzählt, werden die Glücksgefühle von anfänglichen Bedenken überschattet:
Tabea Sellner ist kein Einzelfall. Ihre ehemalige VfL-Kollegin Almuth Schult hat nach der Zwillingsgeburt im April 2020 gezeigt, dass es durchaus möglich ist, auf die große Fußballbühne zurückzukehren. Im Juli 2022 reiste sie zur EM nach London, ihre Zwillinge waren mit dabei.
"Sie hat es bereits zum zweiten Mal wieder auf den Platz geschafft", betont Sellner. Im August 2023 hat die damalige Nationaltorhüterin ihr drittes Kind zur Welt gebracht, fast acht Monate später unterschrieb sie einen Vertrag beim Hamburger SV.
Almuth Schult hat nach mehrmonatiger Babypause unter Beweis gestellt: Muttersein und Fußball-Profi – ja, das geht. Gleiches gilt für Melanie Leupolz, die neun Monate nach ihrer Geburt für die Weltmeisterschaft 2023 nominiert wurde – und ihren Sohn mit nach "Down Under" brachte.
"An Melanie Leupolz oder Almuth Schult sieht man, dass man auch wieder an sein altes Niveau anknüpfen kann. Sie zeigen, dass es funktioniert, auch mit Kind", sagt Tabea Sellner.
Acht Wochen Mutterschutz sind für Sellner nun vorbei, im Juli beginnt die Vorbereitung in Wolfsburg. "So langsam juckt's wieder", sagt sie und grinst.
Noch im sechsten Schwangerschaftsmonat hat die Stürmerin trainiert, ohne Körperkontakt – aber immerhin mit Ball. Wann sie ihr Comeback in der Nationalmannschaft geben wird, darüber mache Sellner sich noch keine Gedanken, Ziele hat sie sich aus Prinzip nicht gesetzt:
"Ich möchte mir selbst auch ein bisschen den Druck nehmen und auf meinen Körper hören", erzählt sie und glaubt, dass es Zeit brauche, bis sich ihr Körper wieder vollständig regeneriert hat. "Klar, möchte ich so schnell wie möglich wieder auf dem Platz stehen, aber ich möchte auch so gesund wie möglich wieder zurückkommen."
Wann und ob Tabea Sellner wieder ein Länderspiel bestreiten wird, ist ungewiss. Das weiße Trikot mit den schwarz-rot-goldenen Akzenten trägt sie dennoch – als stillende Vollzeit-Mama, in einem Biergarten mitten in Berlin.