Noch vor wenigen Tagen gab es mehr Fragezeichen als Zuversicht. EM-Stimmung wollte in Deutschland einfach nicht aufkommen. Der dauernde Vergleich zum Sommermärchen 2006 schien die Erwartungen an das Turnier in eine unerreichbare Sphäre katapultiert zu haben.
Damals entdeckte ein feierndes Fußballvolk über die Klinsmann-Elf das gute Gefühl im Umgang mit nationalen Symbolen, ohne dass irgendjemand einen Gedanken daran verschwendete, sich dadurch in eine "rechte Ecke" zu stellen. Im Gegenteil, jede Fanmeile im Land wurde in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer getaucht und gleichzeitig ließ niemand einen Zweifel daran aufkommen, dass in diesen Sommertagen 2006 die Welt tatsächlich zu Gast bei Freunden war.
18 Jahre später gilt ein weitaus schlichteres Turniermotto: "United by Football" heißt die nichtssagende Losung. Klingt gut, kann man aber wirklich bei jeder Gelegenheit auf Wiedervorlage schalten, denn "vereint durch den Fußball" geht immer.
Deshalb tut es gut, sich die Auftritte der Fans genauer anzuschauen. Wie treten sie auf? Welche Fans fallen auf? Wer inszeniert sich am originellsten? Taucht Gewalt auf? Müssen wir Angst vor Krawall und Hooligans haben? Was können wir aus dem Fanverhalten der ersten Tage lernen?
Die EM ist dank ihrer Zuschauer grandios gestartet. Die Fans könnten der eigentliche Star dieser Europameisterschaft werden. Vor allem die, die sich nicht von den Managern und Choreografen ihrer nationalen Fußballverbände gängeln und einvernehmen lassen.
Beispielsweise die Fans aus Schottland. Die haben uns gezeigt, was unter einer wahrhaften Fankultur zu verstehen ist. Die Schotten sind bei Welt- und Europameisterschaften noch nie über die Vorrunde hinausgekommen und werden von ihren Fans bedingungslos und leidenschaftlich unterstützt.
Knapp 10.000 schottische Fans ließen trotz der fünf Gegentore im Eröffnungsspiel nie einen Zweifel dahingehend aufkommen, wem das Münchner Stadion an diesem Tag gehört. Die knapp 60.000 Fans aus Deutschland hatten im Support-Battle nie eine Chance gegen die selbstbewussten Schotten.
Selbst beim Spielstand von 1:4 feuerten die Bravehearts ihr Team mit eindrücklichem Fangesang an. Dafür ließen sich die Anhänger der DFB-Elf nach den akustischen Einspielern von Major Tom ein Stück weit mitreißen. Das ist ein Unterschied, über den wir nachdenken müssen.
In Hamburg demonstrierten zehntausende Oranje-Fans einen Fanmarsch, wie wir ihn in Deutschland lange nicht gesehen hatten. Fröhlich, stimmungsvoll und mit originellen choreografischen Einlagen angereichert.
Die eingesetzten Polizei- und Ordnungskräfte begleiteten den Fanmarsch anerkennend und ich bin mir sicher, die allermeisten wünschen sich so einen Einsatz auch an dem Tag, an dem die Fans der deutschen Nationalmannschaft ihr Selbstverständnis auf so eine Art und Weise zum Ausdruck bringen.
Warten wir mal ab und schauen uns bis dahin die Fanmärsche unserer Gäste an. Die sind allesamt bunt, fröhlich und enorm stimmungsvoll. Ich bin am vergangenen Samstag extra nach Köln gefahren, um die Fans aus Ungarn und der Schweiz hautnah erleben zu können. Das war klasse, aber ich bin mir sicher, der Fanmarsch der Schotten am Mittwoch vor dem Spiel gegen die Schweiz in Köln wird einen neuen Maßstab setzen. Wer an diesem Nachmittag Zeit hat, muss sich das einfach anschauen!
Diese einzigartige Stimmung färbt ab. Das fußballerische Niveau der ersten Spiele ist Weltklasse. Der Dialog zwischen Spielfeld und Kurve funktioniert. Es wird gekämpft und gleichzeitig gezaubert. Sowohl auf dem Spielfeld als auch auf den Zuschauerrängen. Das Turnier macht einfach Spaß.
In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass sich auch die deutschen Fans im Laufe des Turniers anstecken lassen und es dem Vorbild unserer Gäste nachmachen: "United by football", was auch immer sich die Planer der EM dabei gedacht hatten. Die Fans machen jetzt schon weitaus mehr daraus.