Es sollte eigentlich ein lockeres Spiel in Estland gegen den Tabellenletzten der Gruppe C werden, doch es wurde ein Kraftakt. Die deutsche Nationalmannschaft hat das wichtige EM-Qualifikationsspiel am Sonntagabend in Tallinn nach erheblichen Startschwierigkeiten mit 3:0 gewonnen. Ein Spieler stand dabei im Mittelpunkt – weil er die Nationalmannschaft in wenigen Stunden gleich zweimal schwächte: Emre Can.
Da wäre einerseits Cans sportliche Schwächung in der zwölften Spielminute: Niklas Süle spielte unter Druck einen unsauberen Querpass auf den 25-Jährigen. Der Profi von Juventus Turin konnte den Ball nicht annehmen und grätscht – und brachte den Esten Liivak vor dem deutschen Strafraum zu Fall. Liivak wäre frei vor Neuer gewesen, weshalb Schiedsrichter Kabakov völlig verdient die Rote Karte zückte. Deutschland musste 80 Minuten in Unterzahl spielen. Es war sogar Rekord-Rot: Noch nie in der Geschichte der Nationalmannschaft flog ein deutscher Spieler so früh vom Feld.
Die ganze erste Halbzeit wirkte die deutsche Mannschaft nach dieser Aktion wie gehemmt. RTL-Experte Jürgen Klinsmann bewerte die Aktion als Knackpunkt: "Die Rote Karte hat das Spiel komplett verändert." Niklas Süle sagte nach dem Spiel: "Die Rote Karte hat unserem Spiel natürlich geschadet." Der sichere Sieg des großen Favoriten schien gegen die mutigen Underdogs in Gefahr. Can erwies seinem Team mit der frühen Unterzahl einen Bärendienst. Bundestrainer Joachim Löw muss sich trotz des Sieges einigen unangenehmen Fragen stellen, weil trotz Unterzahl das Team nur wenige Ideen hatte. Dass das deutsche Nationalteam in der zweiten Hälfte noch gewinnen konnte, lag vor allem an der individuellen Qualität.
Besonders Can dürfte der Sieg freuen, denn schon vor dem Spiel hatte er für negative Schlagzeilen gesorgt.
Kurz vor dem Spiel der Nationalelf hatte Can, wie auch sein Nationalmannschaftskollege Ilkay Gündogan, ein Bild des türkischen Nationalspielers Cenk Tosun auf Instagram gelikt, wie die "Bild" berichtet. Darauf zu sehen: Türkische Nationalspieler, wie sie ein Tor bejubeln – mit einem Militärgruß salutierend vor der Ehrentribüne. Der Vorfall wird derzeit sogar von der Uefa untersucht. Denn: Hinter dem Salut-Jubel wird ein Bezug auf Offensive türkischer Streitkräfte in Nordsyrien vermutet. Tosun, der selbst auch auf dem Foto zu sehen ist, schrieb dazu: "Für unsere Nation, besonders für diejenigen, die ihr Leben für unsere Nation riskieren."
Can und Gündogan hatten das Bild von ihrem in Wetzlar geborenen, deutsch-türkischen Kumpel kurze Zeit später wieder entlikt. Der DFB erklärte, dass der Verband sich in Alarmbereitschaft befände und nach dem Estland-Spiel der Nationalmannschaft mit den Spielern sprechen wolle. Dass Gündogan und Can das Foto wieder entlikt hätten, würde demnach als erstes Statement zur Kenntnis genommen werden.
Gündogan verteidigte sein Verhalten, dass er das Like zurückgenommen habe, als er gesehen habe, dass es politisch gewertet wurde. Nach dem Spiel gegen Estland wollte Gündogan erst nichts sagen, dann stellte er sich doch noch den Medien: "Ich habe schon ein Bild gelikt, weil es ein Freund ist und ich mich über sein Tor gefreut habe, weil er in Everton derzeit nicht viel spielt", so Gündogan. "Es ist schade, dass da so eine Geschichte daraus gemacht wird. Dahinter steckt keine politische Absicht. Emre und ich sind gegen jegliche Art von Krieg oder Terror – egal, wo."
Can sagte: "Ich habe den Post von Tosun, den ich schon lange kenne, beim Scrollen geliked, ohne jegliche Intention und auf den Inhalt zu achten. Ich bin ein absoluter Pazifist und gegen jede Art von Krieg." Nach dem Estland-Spiel wiederholte er seine Worte und erklärte: "Das war nicht so gemeint, ich bin gegen Krieg. Mehr will ich dazu auch nicht sagen."
Nach dem Spiel hatte Bundestrainer Joachim Löw über Gündogans Tor gesagt: "Ich denke, das ist ein klares Bekenntnis zu Deutschland." Und er fügte hinzu: "Wer die beiden kennt, weiß, dass die beiden natürlich gegen Terror und gegen Krieg sind."
Ob die Erklärungen der beiden Nationalspieler nun glaubhaft sind oder nicht: Das "Like-Gate" wird den DFB in den nächsten Tagen sicherlich beschäftigen und abermals für negative Schlagzeile sorgen. Es erinnert an das Erdogan-Foto, welches unter anderem Nationalspieler Gündogan vor der WM 2018 machte und erhebliche Kritik einbrachte. Damals hatte Can die Einladung des umstrittenen türkischen Präsidenten abgesagt und war dafür gelobt worden.
Gündogan, der zwei Tore gegen Estland schoss, konnte wenigstens auf dem Platz ein Zeichen setzen. Can hingegen schwächte das Nationalteam auf und neben dem Platz.
Gündogan äußerte sich nach dem Spiel gegenüber "Bild", dass er die Reaktionen auf die Likes überzogen fand: "Ich habe das ehrlich gesagt erst mitbekommen, als dann unsere Geschichte aufgetaucht ist", so der Nationalspieler. Dass die Berichte über die Likes ausgerechnet kurz vorm Spiel aufgetaucht seien, fühle sich auch "nicht gerade wie ein Zufall an", da das Foto schon drei Tage alt sei. Gündogan weiter: "So ist das heutzutage, ich kann es nicht ändern. Am Ende ist das immer Interpretationssache." (bild.de)
Das deutsche Nationalteam reagierte am Montagmorgen in den sozialen Medien mit einem symbolischen Schulterschluss-Gruppenfoto, auf dem Spieler, Trainer und Staff gemeinsam posieren. In der Bildmitte steht Kapitän Manuel Neuer, der zu seiner rechten Ilkay Gündogan und zu seiner linken Emre Can in den Arm nimmt. "Gemeinsam für Offenheit, Vielfalt und Toleranz. Gegen jede Form von Gewalt und Diskriminierung", heißt es dazu.
Die Aussagen, die der DFB damit in die Öffentlichkeit transportieren will: Klare Distanzierung vom Foto Cenk Tosuns sowie die klare Botschaft, dass Can und Gündogan Teil des Teams sind und man ihnen zur Seite steht.
(bn)