Am 13. Juli 2014 krönte Bastian Schweinsteiger seine Karriere mit dem Weltmeistertitel. Er wurde einer der Helden von Rio; unvergessen seine blutüberströmte Wange in der Verlängerung des WM-Finals gegen Argentinien. Sieben Jahre später wird er nicht am Spielfeldrand getackert werden müssen, sondern wohlauf, wenngleich etwas ergraut auf dem Haupt, im Fernsehstudio stehen. Denn bei der am 11. Juni beginnenden Fußball-Europameisterschaft wird der 36 Jahre alte Ex-Nationalspieler das Spielgeschehen als Experte der ARD aufmerksam verfolgen.
In einem "Welt"-Interview ließ Schweinsteiger verlauten, dass er bei seiner möglichen Kritik keine Rücksicht auf alte Freundschaften nehmen werde. "Die Analysen dürfen hart in der Sache sein, müssen aber anständig bleiben. Es gibt keine Hemmschwelle. Wenn es sachlich ist, fachlich fundiert, dann ist angebrachte Kritik kein Problem."
Diese Haltung untermauerte er, indem er Jogi Löws Nicht-Nominierung von Jérôme Boateng scharf kritisierte. Boateng war 2014 mit Schweinsteiger Weltmeister geworden, dann aber nach der enttäuschenden WM 2018 gemeinsam mit Mats Hummels und Thomas Müller aussortiert worden. Der Bayern-Verteidiger wurde nun, im Gegensatz zu Müller und Hummels, von Löw nicht für die EM 2021 zurückgeholt.
Eine Entscheidung, die Schweinsteiger nicht nachvollziehen kann. Ihm sei es ein Rätsel wie Boateng nicht nominiert werden konnte. "Mir persönlich ist es ein Rätsel, wieso Jérôme Boateng nicht nominiert wurde", sagte Schweinsteiger der "Welt".
In der Causa Boateng kommt auch Uli Hoeneß nicht gut weg. Der ehemalige Bayern-Präsident hatte sich vor einigen Wochen gegen eine Nominierung Boatengs ausgesprochen.
"Das hat mich überrascht. Ich kannte Uli Hoeneß immer so, dass es ihm das Wichtigste war, die eigenen Spieler des FC Bayern zu schützen", sagte Schweinsteiger nun. "Ich weiß nicht, ob immer noch etwas zwischen den beiden steht. Für mich ist die Leistung entscheidend." Und da führe für ihn kein Weg an Boateng vorbei, so Schweinsteiger. "Er ist auch besser als alle Verteidiger, die nun im EM-Aufgebot Deutschlands stehen."
Im Hinblick auf die EM ist laut Schweinsteiger vor allem das erste Gruppenspiel am 15. Juni gegen den amtierenden Weltmeister und Topfavoriten Frankreich von enormer Bedeutung. Wenn man diese Mannschaft im ersten Spiel schlagen könne, so Schweinsteiger, könne das eine Euphorie entfachen, die die Mannschaft weit durchs Turnier trage.
Auch die Tatsache, dass die EM Löws letztes Turnier mit der Nationalmannschaft sein wird, könnte die Mannschaft seiner Einschätzung nach positiv beeinflussen. Das Team müsse eine "Jetzt-erst-recht"-Mentalität entwickeln. Nicht nur aufgrund von Löws angekündigtem Rücktritt, sondern auch "wegen der WM 2018, wegen schlechter Spiele wie gegen Spanien oder Nordmazedonien".
Schweinsteiger vermutet, dass die DFB-Stars bei der EM nochmal eine andere Seite von Jogi Löw kennenlernen werden: "Die Spieler werden sich auf einen Jogi Löw einstellen müssen, der auf keinen Rücksicht nimmt. Das wird sicher eine neue Situation für die Spieler. Kompromisse muss Jogi jetzt nicht mehr eingehen."
Auf die Post-Löw Ära freut sich Schweinsteiger unterdessen. "Hansi (Hans-Dieter Flick, Nachfolger von Jogi Löw, Anm. d. Red.) ist nach all seinen Titeln nun auf Augenhöhe mit Jogi. Er wird das mit Sicherheit sehr gut machen, Hansi kennt alle Strukturen beim DFB." Nicht nur Schweinsteiger würde sich wohl freuen, wenn Flick die Nachfolge als Bundestrainer des amtierenden Europameisters antreten würde. Dieses Mal müsste Schweinsteiger dafür nicht seine markanten Wangenknochen aufs Spiel setzen.
(red)