Bei jedem sportlichen Großereignis ärgern oder wundern sich viele Menschen über die Debatte: Deutschland-Fähnchen stehen plötzlich in der Kritik als Triebfeder für Nationalismus. Wir haben zwei Experten befragt, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen.
Die Linksjugend "Solid", Jugendorganisation der Linkspartei, empört gerade Menschen mit einem neu herausgebrachten Flyer mit dem Titel "Deutschland knicken", der sogar über die besten Methoden informiert, Fahnen an Autos zu zerstören – Testsieger ist das Abschneiden vor dem Anzünden oder Abreißen.
Kritik am Schwenken von Deutschland-Fähnchen hatten in der Vergangenheit aber auch Jusos und Grüne Jugend geäußert. Was ist also dran an Befürchtungen, dass Deutschland-Fahnen Nationalismus verstärken könnten?
Die Osnabrücker Sozialpsychologie-Professorin Julia Becker forschte dazu schon bei der WM 2002 und hat auch bei der Europameisterschaft 2016 mehr als 400 Personen befragt. "Wir haben einen schwachen, aber signifikanten Zusammenhang gefunden zwischen Nationalismus und der Anzahl Flaggen, die Personen tragen", sagte sie.
Der Bielefelder Professor Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld, forscht in die gleiche Richtung: "Uns hat immer interessiert, in welchem Ausmaß beim Fußball Vorurteile und menschenfeindliche Meinungen entstehen, wie sie aber auch durch gemeinsame Erlebnisse vermindert werden."
Becker sagt, dass ihre kulturvergleichenden Arbeiten ergeben haben, dass die Deutschen tendenziell andere Werte mit der Flagge assoziieren als Menschen in anderen Ländern. Während in vielen anderen Ländern die Flagge mit Demokratie und egalitären Werten assoziiert werde, werde in Deutschland damit zunächst Sport assoziiert, also Wettkampf. Aus Zicks Sicht gibt es einen Teil der Fans, der mit den Flaggen und Fahnen Nationalstolz verbindet und dann noch behauptet, der wäre eigentlich unterdrückt. "Aber das sind keine Mehrheiten."
Es kommt immer darauf an, in welchem Kontext die Flagge gezeigt wird, sagt Becker. Eine Studie von ihr hat auch ergeben, dass die Flagge als Mode-Accessoire harmloser ist als im militärischen Kontext. Wer auf einem Pulli oder einer Sonnenbrille eine Flagge sieht, denkt dabei viel weniger an Nationalismus und Patriotismus als bei Flaggen im Sport und beim Militär. Bei Mode denken Menschen eher an die Wertigkeit eines Produkts.
Nein! Es gibt keine Erkenntnisse, dass Party-Patriotismus tatsächlich auf alle Fans beim Public Viewing irgendwelche anderen Folgen hat als vielleicht Spaß oder Kopfweh von zu viel Alkohol. "Für diejenigen, die sich nicht stark mit Deutschland identifizieren, hat die Flagge auch keine negativen Effekte auf Vorurteile", sagt Becker. Ein Anstieg von Vorurteilen und damit Fremdenfeindlichkeit wurde von den Wissenschaftlern bei den Personen registriert, die sowieso schon sehr patriotisch sind. Die Professorin erwartet, dass sie nun für diese Aussage wieder reihenweise Hassmails erhält.
Zick sagt: Problematisch wird es, sobald Bilder von Vorherrschaft und einer Höherwertigkeit von Kulturen hinzukommen und das Umfeld die Idee des banalen Nationalstolzes teilt. "DFB und viele Medien machen dieses einfache Spiel mit nationaler Überheblichkeit aber nicht mit."
Jede WM ist neu, sagt Konfliktforscher Zick. "Die Frage, wie nationaler Patriotismus mit Abwertung von anderen Nationen und Menschen einhergeht, hängt vom Kontext ab." Zum Veranstalter Russland gebe es bei vielen Menschen ein distanziertes Verhältnis. Eine Rolle spiele auch, dass die WM jetzt im Kontext internationaler Spannungen stattfindet. "Europa ist zerstritten, und das kann einen Einfluss auf die Wahrnehmung und das gemeinsame, Europa-übergreifende Erlebnis haben."
Auch das habe Einfluss. "Früher waren die beiden Vorbild für ein neues, vielfältiges Deutschland, nun werden sie ausgebuht, weil sie als Repräsentanten von Erdogan betrachtet werden", sagt Zick. Die frühere Wirkung wurde sogar als integrierender "Özil-Effekt" bekannt: 2006 habe sich gezeigt, dass Menschen über eine Identifikation mit der vielfältigen, multikulturellen deutschen Mannschaft auch ihre Vorbehalte und Stereotypen gegenüber anderen Ländern zurückgestellt haben.
Spieler mit Migrationsgeschichte in ihrer Familie seien Brückenbauer gewesen. "Ich denke, der Effekt ist weg." Zick macht aber noch Hoffnung: In der Mannschaft müssten andere Spieler als Identfikationsfiguren aufgebaut werden. "Wenn sie gut spielen und wenn wieder deutlicher wird, dass eine Mannschaft mehr ist als die Summe ihrer Spieler, kann der Effekt gelingen." Der DFB könne das durch eine Kampagne befördern.
Sozialpsychologin Becker hält wenig davon, mit solcher Absicht zu einer Deutschland-Fahne zu greifen. "Sie schließt immer auch Personen aus, die als nicht zugehörig wahrgenommen werden. Generell indizieren Flaggen immer Zugehörigkeit zu etwas und Abgrenzung."
Becker sieht hier ein mögliches Forschungsgebiet, macht das von der Frage abhängig, welche Werte Personen mit EU-Fähnchen verbinden und was das für sie einschließt und was nicht. Zick erklärt, eine solche Kombination könne psychologische Wirkung haben in dem Maße, in dem Fahnen mit anderen Meinungen und Ideologien erscheinen, sagt Zick. "Allerdings wirkt es auch nicht mehr, wenn dies genauso andere Nationen tun und wenn sie die Fahne mit WM und Kommerz verbinden. Wir werden in der Werbung ja auch mit Nationalfahnen zugeschüttet und wissen, hier geht es um was ganz anderes."
Dieser Artikel schien zuerst auf t-online.de