Wenn der FC Bayern am Samstagabend beim 1. FC Union Berlin antritt, muss Thomas Tuchel auf insgesamt sechs Spieler verzichten. Leroy Sané, Serge Gnabry, Kingsley Coman, Sacha Boey, Bouna Sarr und Tarek Buchmann stehen allesamt verletzungsbedingt nicht zur Verfügung.
Es ist nicht das erste Mal in dieser Saison, dass der FCB-Trainer eine halbe Elf an Verletzten zusammenbekommt. Immer wieder sind es dabei Muskelverletzungen, die den Münchener Spielern zu schaffen machen, ganze 24 waren es im bisherigen Verlauf dieser Spielzeit.
"Das ist auf jeden Fall auch ein Thema, wir müssen eine Lösung finden", sagte Tuchel kürzlich, nachdem es Gnabry mal wieder erwischt hatte. Über die Gründe wurde in der Folge reichlich spekuliert. Liegt es am Rasen? Liegt es an den Trainingsmethoden von Tuchel?
Dr. Hans-Wilhelm Müller Wohlfahrt, seines Zeichens eine echte Koryphäe im Bereich der Sportmedizin, ordnete die Probleme des FC Bayern im Gespräch mit "Welt am Sonntag" nun ein.
Dabei räumte er zunächst mit den Spekulationen rund um den Rasen auf. "Ganz klares Nein! Ein solcher Rasen ist heute Standard", sagte Dr. Müller-Wohlfahrt deutlich, und ergänzte: "Einen ähnlichen hatten wir schon unter Pep Guardiola. Der wurde sogar gewechselt, war aber nicht schuld an den Verletzungen damals."
Auch Tuchel nahm er dabei aus der Schusslinie. Es sei "nicht die Schuld des Trainers. Thomas Tuchel hat in Sachen Training und Belastungssteuerung einen sehr guten Ruf". Vielmehr sei der Übungsleiter "der Leidtragende, immer wieder muss er die Mannschaft neu formieren".
Aber woran liegt es dann? "Ich sehe ein grundsätzliches Problem im Profifußball. In der Bundesliga, aber auch in der englischen, spanischen, italienischen und französischen Liga", holte Dr. Müller-Wohlfahrt weit aus. Für ihn steht fest: "Die Kernspin-Technik, ihr wird ein deutlich zu hoher Stellenwert eingeräumt."
Der Glaube an diese Herangehensweise sei "viel zu groß geworden", beklagte er und schlug zugleich Alarm: "Die moderne Sportmedizin befindet sich nicht im Stillstand, sondern in der Rückentwicklung."
Der 81-Jährige, der als Mannschaftsarzt einst selbst den FC Bayern, Hertha BSC sowie die deutsche Nationalmannschaft betreut hatte, vermisst demnach zunehmend "die Fähigkeit, mit den Händen zu diagnostizieren. Bei den jungen Ärzte-Kollegen vermisse ich das Rückgrat zu sagen: Ich will selbst herausfinden, was die Ursache und Art der Verletzung ist".
Stattdessen vertrauen Dr. Müller-Wohlfahrt zufolge zu viele Ärzte blind auf die Technik. Dabei sollten sie Verletzungen selbst ertasten können: "Jeder Sportarzt sollte noch auf dem Rasen oder spätestens in der Kabine eine Diagnose stellen können."
Durch die veränderte Herangehensweise "stimmen die Diagnosen oft nicht" oder aber sie werden "zu spät gestellt". Seine Ausführungen schloss die Legende der Sportmedizin daher mit einem Appell: "Ich will grundsätzlich allen Sportärzten raten: Schaut hin, mit welchen Symptomen ihr es zu tun habt! Traut euch!"