Watson: Frau Schenk, Sie sind Koordinatorin der Stakeholder Initiative für die Euro 2024. Für viele könnte das ein kryptischer Begriff sein. Was machen Sie genau?
Sylvia Schenk: Wir haben uns schon vor sieben Jahren – in Vorbereitung auf die Ausschreibung der Uefa – zusammengefunden. Ich bin auf internationaler Ebene in der Sports & Rights Alliance tätig. Das ist ein Zusammenschluss von Menschenrechtsorganisationen. 2014 haben wir uns erstmals auf internationaler Ebene getroffen. Der Auslöser war damals die WM-Vergabe der Fifa nach Katar, aber auch mit dem IOC haben wir auf oberster Ebene verhandelt.
Wie kam das Engagement zur EM?
Die Uefa kam im Herbst 2016 auf die Sports & Rights Alliance zu, wollte für die Ausschreibung zur EM 2024 Menschenrechte, Compliance und Transparenz mit aufnehmen. Bis dahin spielten diese Felder keine Rolle. Ich wusste daher schon vor dem DFB, worauf die Uefa als Kriterien für die Ausschreibung wert legt.
Dann sind sie auf den DFB zugegangen?
Ja, ich wollte die internationalen Entwicklungen auch in Deutschland etablieren, im Bewerbungsprozess begleiten und wenn möglich auch das Turnier. Das war der Start der Stakeholder Initiative, seitdem treffen wir uns sechs bis acht Mal im Jahr.
Wie hat der DFB auf ihr Engagement reagiert?
Wir wurden vom DFB zu den Stakeholder-Dialogen eingeladen und haben Druck auf den DFB gemacht, weshalb er uns schnell eingebunden hat. Wir beraten die Euro GmbH immer wieder und haben gesagt, dass der DFB sich bei einer Bewerbung auch menschenrechtlich entsprechend aufstellen muss. Das hat zu einem Menschenrechtskonzept des DFB geführt und dazu, dass der DFB die Menschenrechte 2019 in seine Satzung aufgenommen hat.
Gerade wenn Sie sagen, dass die Uefa auf Sie zugekommen ist, vermittelt es den Eindruck, dass sich der europäische Fußball-Verband seiner gesellschaftlichen Rolle bewusst ist. Würden Sie dem zustimmen?
Bei der Uefa hat sich deutlich etwas getan. Der große Anstoß war auch hier die WM-Vergabe an Katar. Dadurch sind Menschenrechte und der Kampf gegen Korruption auf die Agenda vieler Sportorganisationen gespült worden. Die Uefa hat so nach und nach diese Entwicklung aufgegriffen. Die deutschen Sportorganisationen hinken leider hinterher und haben kaum mitbekommen, was sich international getan hat.
Im Sommer hatten Sie kritisiert, dass Deutschland bei der EM-Organisation im Bereich der Nachhaltigkeit, Infrastruktur, Digitalisierung und Mobilität zurückliege. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es ist kein Geheimnis, dass wir in diesen Themenfeldern nicht ganz vorne sind – vorsichtig ausgedrückt. Das zeigt sich jetzt auch bei der EURO. Im Grunde ist erst in den letzten zwölf Monaten Dynamik reingekommen. Die Vergabe war im September 2018, die Städte hatten beispielsweise sechs Jahre Zeit, an einem Mobilitätskonzept zu arbeiten. De facto ist es aber erst vor einem Jahr in Gang gekommen. Lange war nicht klar, wie ein Konzept aussehen soll, auch auf die Menschenrechte bezogen.
Wie meinen Sie das?
Oft blicke ich in fragende Gesichter als Reaktion darauf, wenn ich sage, dass wir auch in Deutschland die Menschenrechte im Blick haben müssen. Sicherlich wird hier nicht gefoltert und die Justiz funktioniert auch, aber es gibt Diskriminierung, Rassismus, sexualisierte Gewalt in Stadien. Und es geht um Lieferketten und die Arbeitssituation in anderen Ländern, ebenso wie um Branchen mit prekären Arbeitsverhältnissen in Deutschland, die eng mit der Europameisterschaft verbunden sind.
An welche Felder denken Sie da?
Catering, Reinigung, Sicherheit und das Baugewerbe.
Welche Missstände sehen sie konkret in den genannten Branchen?
Es gibt Firmen mit Schwarzarbeit, Bezahlung unter Mindestlohn, exzessiven Arbeitszeiten und unzureichenden Unterkünften. Das erfahren wir immer wieder durch Razzien des Zolls. Im Catering sind es auch nicht nur teilweise zu lange Schichten der Menschen…
Sondern?
Wir haben während Corona gesehen, wie bei Tönnies gearbeitet und die Beschäftigten behandelt werden. Daher ist auch die Frage, wo die Würstchen und das Essen generell in den Fan-Zones herkommen. Auch diese Aspekte gehören zu den Menschenrechten. Das ergibt sich entsprechend aus dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
Wie sehen Sie die Situation in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern?
Es ist immer einfach zu sagen, dass in Katar oder Saudi-Arabien alles schlecht ist. Aber wir haben selbst noch Hausaufgaben zu machen. Natürlich fangen wir auf einem anderen Niveau als viele weitere Länder an. Aber wenn wir uns mit unserer Menschenrechtslage so brüsten, dann müssen wir doch auch bitte schön zeigen, wie eine Veranstaltung ohne Rechtsverletzungen umgesetzt wird.
Was muss in den nächsten Monaten unbedingt in der Vorbereitung auf die EM passieren?
Wir brauchen einen richtigen Endspurt. Mitte November soll eine Menschenrechtserklärung für das Turnier unterzeichnet und vorgestellt werden. Das ist gut, aber auch da sind wir spät dran. Die Menschenrechts-Policy für die Frauen-Fußball-WM in Australien und Neuseeland wurde bereits zweieinhalb Jahre vor dem Turnier veröffentlicht.
Wo hinken die EM-Organisator:innen noch hinterher?
Es gibt bis heute keinen Beschwerde-Mechanismus. Gerade wenn es um Lieferketten oder Beschäftigte im Bauwesen geht, braucht man diesen aber sehr früh, um Missstände zu erkennen. London hatte schon bei Olympia 2012 – sozusagen in grauer Vorzeit – lange vor dem Beginn der Spiele so einen Mechanismus.
Haben Sie Gründe, weshalb wir so spät dran sind?
Ein Problem im Ablauf war schlichtweg die Struktur in Deutschland. Es geht um zehn Städte in sieben verschiedenen Bundesländern, mehrere Bundesminister sind involviert. Da wollte jeder etwas vom Kuchen abbekommen und sich positionieren. Es war eine unglaubliche Koordinations-Aufgabe.
Gibt es auch Entwicklungen, die sie begrüßen?
In der Umsetzung und Vorbereitung sind große Schritte zur Barrierefreiheit gemacht worden. Da sind wir in den Stadien noch nicht auf dem Niveau, auf dem wir sein müssten, da wird aber gerade sehr viel vorbereitet. Außerdem wird auch an einer einheitlichen Lösung zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt im Stadion gearbeitet. Das könnte in Form einer Melde-App während des Turniers geschehen.
Also fällt ihr grundlegendes Fazit dennoch positiv aus?
Wir kommen dahin, wo wir hinmüssen. Das ist gut und wichtig, obwohl wir spät dran sind. Ich persönlich erachte es aber auch als elementar, dass wir in der Öffentlichkeit nicht in Superlativen von der EM reden und bejubeln, wie toll alles sei. Wir holen international auf, werden aber definitiv keine Standards setzen. Philipp Lahm betont als Turnierdirektor immer wieder, dass es die tollste EM wird. Das sollte er nicht machen.