Der Fußball gehört allen. So wird es von Fans, Profis und Vorständen gerne betont. Aber werden dabei wirklich alle mit einbezogen?
Tyll Reinisch nimmt als Rollstuhlfahrer eine oftmals vernachlässigte Perspektive ein. Er hat es sich zur Mission gemacht, die 36 Stadien der 1. und 2. Bundesliga auf ihre Barrierefreiheit zu testen. Auf Youtube dokumentiert er jeden Spieltag.
Im Gespräch mit watson gibt Tyll einen Einblick, wie schwer ein Stadionbesuch für Menschen im Rollstuhl ist, welche Hürden es dabei gibt und was sich während der Heim-EM geändert hat.
Watson: Tyll, in welchem deutschen Stadion steht es besonders schlecht um die Barrierefreiheit?
Tyll Reinisch: Es gibt nicht den einen Verein, bei dem es wirklich schlecht ist. Aber Unterschiede merkt man schon. In Magdeburg kannst du das Rollstuhlticket nur über den Behindertenfanbeauftragten buchen. Als Auswärtiger musste ich ihm mein Geld aufs Privatkonto überweisen, damit er mir im Shop das Ticket kaufen und dann per Mail zuschicken kann.
Das klingt nicht nach professionellen Strukturen.
Das hat mit Gleichberechtigung nicht viel zu tun. Ich kann nicht spontan sein, habe stattdessen den Rattenschwanz mit Vorabüberweisung, Kontaktaufnahme und Nachfragen.
Sticht ein Standort als starkes Gegenbeispiel heraus?
Der FC Bayern macht vieles gut, hat aber finanziell ganz andere Möglichkeiten als ein Zweitligist, muss sich zudem an Uefa-Vorgaben halten. Man kann festhalten, dass die großen Vereine das Räumliche gut umsetzen können, die kleinen Klubs können dafür persönlicher handeln.
In wie vielen Stadien warst du schon?
Während des Projekts komme ich auf acht Besuche: München, Düsseldorf, Braunschweig, Magdeburg, Köln, Hamburg, das Berliner Olympiastadion und Hannover. Vor dem Projekt habe ich noch wesentlich mehr Stadien besucht, die habe ich aber nicht mehr alle auf dem Zettel.
Wie kam dir die Idee, alle 36 Stadien der ersten beiden Ligen auf ihre Barrierefreiheit zu testen?
Es gab keinen konkreten Auslöser, es hat sich eher mit der Zeit entwickelt. Die Liebe zum Fußball ist seit meiner Kindheit da, früher habe ich mit meinem Vater häufig Wochenendtrips gemacht. Neben dem Fußball interessiere ich mich für Medienarbeit. Und Anfang des Jahres gab es eine ARD-Doku, da fand ich mein Projekt passend. Vieles aus der Doku kann ich nachvollziehen, ich habe aber auch schon andere Erfahrungen gemacht.
Es ist also von Standort zu Standort unterschiedlich?
Es gibt große Unterschiede, die DFL ist aber sehr dahinter, das zu vereinheitlichen. Seit einigen Jahren braucht jeder Klub einen hauptamtlichen Ansprechpartner. Die Umsetzung variiert aber stark: Bei manchen Teams macht das eine Person, die noch zehn andere Aufgaben hat, bei anderen eine Person, die darauf spezialisiert ist. Da kann man sich ausrechnen, wie sehr das Thema verkörpert wird.
Treppen an Stelle von Rampen sind die offensichtlichsten Hürden. Welchen Hindernissen siehst du dich ebenfalls regelmäßig ausgesetzt?
Der Spieltag beginnt sehr früh – im Moment des Ticketkaufs. Ich kann in der Regel nicht spontan buchen, der Kaufprozess ist zudem nicht einheitlich.
Wie sehen die Unterschiede aus?
Bei manchen musst du eine E-Mail schreiben, bei anderen geht es nur telefonisch. Bei manchen nur über die Ticketabteilung, bei anderen über die Fanbetreuung. Manchmal musst du im Vorfeld zahlen oder dich für einen gesonderten Zugang registrieren. Bei einem Verein warte ich seit einem halben Jahr auf die Freischaltung.
Du musst dich also jedes Mal aufs Neue einlesen.
Da geht einiges verloren. Wenn ich abends mit Freunden unterwegs bin und die spontan entscheiden, morgen zum Fußball zu gehen, kann ich nicht einfach so mitkommen. Das ist die erste Hürde.
Und am Spieltag selbst?
Manchmal hat man mit den Plätzen Glück, manchmal sind die aber auch direkt unter dem Dach. Es gibt viele Vereine, da hast du die Auswahl zwischen 'friss oder stirb'. Ich saß auch schon beim Heimblock, obwohl ich bei der Buchung explizit angegeben hatte, beim Gastteam sitzen zu wollen. An dem Tag war ich zum Glück neutral gekleidet, aber da hätte ich auch auf die Mütze bekommen können.
Ist das Kontingent auch ein Problem?
Insgesamt gibt es viel zu wenige Plätze für Rollstuhlfahrer. Es gibt zwar eine Empfehlung von der DFL, dem werden aber die wenigsten gerecht. Es gibt Vereine, da sind für diese Saison bereits alle Plätze weg.
Bei welchen Klubs?
In Gladbach wurden alle Plätze auf einen Schlag vergeben. In Hoffenheim sind alle Plätze von Dauerkarteninhabern belegt. Am Ende meines Projekts wird es also wahrscheinlich Stadien geben, die ich nicht besuchen konnte.
Du dokumentierst alles, was du rund um einen Spieltag erlebst, in deinen Videos. Ist einer der Vereine deshalb schon mal auf dich zugekommen?
Einmal hat sich ein Fanbeauftragter gemeldet und mir Unsachlichkeit vorgeworfen. Wir konnten das am Ende konstruktiv klären. In Braunschweig wiederum hatten sie von meinem Projekt Wind bekommen und mich während meines Besuchs kontaktiert. Ich habe ihnen anschließend auch schriftliches Feedback zukommen lassen. Basierend darauf wollen sie Änderungen prüfen.
Du warst während der Heim-EM in Hamburg sowie Berlin im Stadion. Welche Veränderungen wurden dabei umgesetzt?
Es waren deutlich mehr Volunteers im Einsatz, das ist im Regelbetrieb sicherlich kaum möglich. Wenn irgendwo eine Rampe ist, die baulich nicht verändert werden kann, machen drei bereitstehende Volunteers natürlich direkt einen Unterschied.
Gab es auch bauliche Anpassungen?
In Hamburg waren die Plätze nun nummeriert, das ist sehr sinnvoll. In der Vergangenheit habe ich meinen Platz schon mal verloren, wenn ich vor dem Anpfiff nochmal auf die Toilette musste oder mir etwas zu trinken geholt habe.
Und in Berlin?
Da hat man die Plätze trotz des Denkmalschutzes gut integriert. Sie ragen nun etwas in den Block herein, dadurch hat man eine gute Übersicht. Die Begleitperson hat zudem einen mobilen Sitz, sodass man nah beieinandersitzen kann. Das ist eine hervorragende Lösung.
Wie viel bleibt davon nach der EM?
Nach der EM war ich nicht noch einmal in Berlin oder Hamburg. Ich habe das für diese Saison aber noch vor, dann kann ich einen Vergleich ziehen.
Wie gut siehst du die deutschen Vereine in puncto Barrierefreiheit unter dem Strich aufgestellt?
Insgesamt sind wir bei einer Sechs von Zehn. Die Grundlage ist da, viele haben es auf dem Schirm und das Thema wird immer präsenter. Es gibt Felder, in denen es schlechter aussieht. Einiges ist aber trotzdem noch ausbaufähig, etwa die Kommunikation.
Wie schneiden Fußballstadien damit im Vergleich zum Rest des öffentlichen Lebens in Deutschland ab?
Es ist ein relativ gutes Abbild von anderen Teilbereichen. Ich kann auch nicht standardisiert ein Bahnticket buchen oder ins Theater gehen, das hat immer einen Zusatzaufwand. Es gibt einzelne Akteure, die positiv herausstechen, es gibt aber auch negative Beispiele. Es ist schade, denn der Fußball könnte da eine Vorbildrolle einnehmen. Die DFL und die Vereine schreiben sich Inklusion auf die Fahnen, im Alltag geht aber noch nicht so viel.
In welchem Stadion geht dein Projekt weiter?
Zum Bundesliga-Start bin ich im Spanien-Urlaub, dort werde ich aber versuchen, ein Spiel von Real Madrid zu sehen. Zur Not würde ich auch Atletico nehmen. (lacht)