Das 7:1 von Deutschland gegen Brasilien bei der WM 2014 bleibt unvergessen. Es war eine Meisterleistung der DFB-Auswahl, die man so in einem Halbfinale wohl noch nie gesehen hat. Wer sich nur die Statistiken des Spiels anschaut, mag allerdings etwas verdutzt dreinschauen.
Mehr Torschüsse, mehr Ballbesitz, weniger Ballverluste – laut dieser Werte war Brasilien dem deutschen Team überlegen. Sind unsere Statistiken also gar nicht so aussagekräftig, wie wir immer dachten?"Ja", sagt Prof. Dr. Daniel Memmert von der Sporthochschule Köln. Und er muss es wissen. Seit 20 Jahren ist er im Bereich der Spielanalyse tätig, leitet das Institut für Trainingswissenschaften und Sportinformatik. Er weiß, anhand von welchen Parametern man wirklich den Verlauf des Spiels erklären kann und welche Spieler in diesen Kategorien zu den Besten zählen.
Herr Prof. Dr. Memmert, gab es in der abgelaufenen Bundesliga-Saison jemanden, der Sie besonders beeindruckt hat?
Prof. Dr. Daniel Memmert: Es sind tatsächlich oftmals die Spieler, die nicht so sehr im Fokus stehen. Das kann man anhand des Werts in Bezug auf die Raumkontrolle gut erkennen. Beispiele sind Thiago oder Thomas Müller vom FC Bayern, die stets in dem Bereich hohe Werte aufweisen.
Wie würden Sie den Begriff Raumkontrolle genauer erklären?
Die geometrische Zerlegung ordnet jedem der 22 Akteure den Raum auf dem Spielfeld zu, welchen er vor allen anderen Spielern erreichen kann und in diesem Sinne kontrolliert. Für eine ganze Mannschaft ergibt sich in der Summe ein Prozentwert, der vor allem in einer definierten Angriffszone vor dem gegnerischen Tor sowie im gegnerischen Strafraum Aussagekraft besitzt. Zudem kann gesehen werden, wie sich die Kontrollanteile mit einem eigenen Passspiel verschieben, also wie groß der Raumgewinn im Spielaufbau oder bei Schnittstellenpässen vor dem gegnerischen Tor ist.
Bei deutlichen Siegen, also Ergebnissen mit einem Abstand von mindestens zwei Toren, ist der Raumkontroll-Indikator der vorherrschende Unterschied zwischen der mehr und weniger erfolgreichen Mannschaft. Die siegreichen Teams überzeugen mit deutlich höheren Kontrollanteilen sowie Raumgewinnen im eigenen Spielaufbau. Auch im Angriff zeichnen den Sieger hohe Raumgewinne vor dem gegnerischen Tor aus. Beispielsweise sieht Thomas Räume, die sonst keiner sieht. Deswegen bezeichne ich ihn gerne als "Raumgenerierer". Diese Eigenschaft von ihm wird gerne unterschätzt.
In Ihrem Buch erwähnen Sie auch in dem Zusammenhang die sogenannte Druckeffizienz. Was verbirgt sich dahinter?
Die Druckeffizienz lässt sich wie folgt erklären: Wie sehr ist ein Spieler in der Lage, unter hohem Druck den Ball zu einem Mitspieler abzugeben, der nicht von mehreren Gegnern umgeben ist und nicht zu großen Druck erfährt? Also wie effizient agiert ein Spieler unter hohem Druck und kann einen Teamkollegen gut in Szene setzen, indem er mehrere Gegenspieler überspielt? Toni Kroos sticht hier mit sehr hohen Werten heraus.
In Ihrem Buch haben Sie auch mehrere Nationalspieler anhand von Daten aus dem Jahr 2017 miteinander verglichen. Dabei sticht vor allem Jerome Boateng hervor, der sehr gute Werte aufweist.
Richtig, das ist bei Innenverteidigern sehr wichtig, da sie bei der Spieleröffnung mehrere Reihen des Gegners überspielen können. Und da haben sowohl Boateng als auch Hummels sehr hohe Werte.
Haben da Verteidiger nicht auch einen Vorteil im Vergleich zu Stürmern? Schließlich haben sie meist nur Druck von einem oder zwei Angreifern, während Mittelfeldspieler zum Beispiel viel mehr Gegner um sich herum haben?
Das hängt stark von der gegnerischen Taktik ab. Wie stark ist das Pressing? Wo fängt es an? Das hat natürlich einen Einfluss auf die Werte. Die Verteidiger haben aber den Vorteil, dass sie auch mehr Reihen überspielen können als Stürmer, die vielleicht nur noch die gegnerische Abwehr vor sich haben. Auf der anderen Seite haben die Verteidiger aber auch den Nachteil, dass bei einem tiefen Pass in die andere Hälfte auch viel mehr Gegnerdruck ist. Dadurch ist es nicht leicht, einen Teamkollegen zu finden, der nur geringem Druck ausgesetzt ist. Wir interpretieren die Daten deshalb positionsspezifisch.
Sie sprechen das Pressing an. Neben Raumkontrolle und Druckeffizienz Ihrer Meinung nach ebenfalls ein wichtiger Faktor. Wie erklären Sie diesen Begriff?
Wir messen beim Pressing, wie schnell die Spieler einer Mannschaft den Gegner nach eigenem Ballverlust anlaufen. Dabei wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Prozess der Ballwiedergewinnung gemessen und zwischen ballnahen sowie ballfernen Spielern unterschieden. Auf diese Weise kann nicht nur die Erfolgsquote im Pressing beziffert werden, sondern auch die Aggressivität, mit der eine Mannschaft nach Ballverlust umschaltet. Auch hier gilt: Wer besser presst über 90 Minuten, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, das Spiel zu gewinnen.
In Deutschland kommen diese Parameter noch nicht bei allen Bundesliga-Klubs zum Einsatz. Wird dieses Feld der Datenanalyse unterschätzt?
Natürlich wird das total unterschätzt. Das sehen wir daran, dass einige Klubs noch gar nicht mit Positionsdaten arbeiten können. Dafür braucht man Informatiker, die nicht jeder Verein hat. Dabei könnte man mit Hilfe dieser Daten vor allem das Scouting erleichtern.
Kommen neben Vereinen eigentlich auch Spieler auf Sie zu und fragen nach Daten über sich selbst?
Klar, das ist ja auch logisch. Die Spieler wollen schließlich besser werden und diese Daten helfen Ihnen dabei.
Sie sind seit 20 Jahren im Beruf tätig, aber vor allem in den letzten Jahren ist die Spielanalyse immer wichtiger geworden. Wie nehmen Sie das wahr?
Es ist bemerkenswert, dass wir inzwischen zwei Studiengänge an der Sporthochschule in Köln haben. In einem der beiden bilden wir systematisch in Zusammenarbeit mit dem DFB professionelle Spielanalysten aus. In dem zweiten, unserem Masterstudiengang Spielanalyse, versuchen wir mit den Studierenden, stark berufsfeld-orientiert, innovative Theorie und Methoden der Datenerhebung, -auswertung sowie -interpretation in den Bereichen Verein/Verband, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft zu erarbeiten.
Inzwischen haben viele Klubs wie Bayer 04 Leverkusen zum Beispiel, extra Co-Trainer für diese Tätigkeit. Das Feld der Spielanalyse boomt, es hat ja sogar jeder Drittligist jemanden dafür angestellt. Auch medial wird es immer professioneller. Bestes Beispiel waren die Freitagsspiele in der Bundesliga bei Eurosport, da wurde ein sehr großer Wert auf die Analyse gelegt.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Wie wird der Umgang mit Daten im Fußball in 20 Jahren aussehen?
In 20 Jahren werden Positionsdaten so zum Fußball dazugehören, wie die Herzfrequenz auf der Pulsuhr beim Joggen. Die Daten werden verhältnismäßig günstig erwerbbar sein und eine hohe Kreativität in den Markt bringen. Dadurch können auch kleinere Mannschaften viel mehr mit diesen Statistiken arbeiten. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass wie viel mehr Daten kombinieren werden können. Also ein integratives Modell aus den Laufdaten, den taktischen Daten und Passdaten. Das sind für mich wesentliche Dinge in der Zukunft.
Wie muss man sich denn die Fernseh-Berichterstattung der Zukunft vorstellen?
Die Aussagekraft von Torschüssen und Zweikampfquoten zum Beispiel wird zunehmend kritisiert. Aktuell spielen sie jedoch noch eine Rolle beim Teamvergleich in der Halbzeit oder auch nach dem Spiel.Diese Statistiken sind tatsächlich überholt. Es gibt Studien, die beweisen, dass diese Faktoren keine Prädiktoren für das Gewinnen oder Verlieren sind. Anders als Daten zur Raumkontrolle oder Druckeffizienz, die sehr viel Aussagekraft haben. Es wird auch Parameter geben, die wir jetzt noch gar nicht kennen.
In Ihrem Buch sprechen Sie aber davon, dass der Fußball auch aufgrund seiner Einfachheit so beliebt ist. Gefährdet Big Data nicht genau diese Einfachheit?
Nein, denn in erster Linie kommt es immer noch auf den Menschen an. Aber der Fußball wird noch spannender werden, weil es viel mehr Möglichkeiten gibt. Die neuen Parameter fordern die Trainer und Spieler heraus, noch kreativer zu werden. Die Gegner wissen fast alles über das eigene Team und umgekehrt. Dadurch braucht man Spieler, die kreativ aus dem gewohnten Muster ausbrechen und so einen Vorteil kreieren.
Diese Kreativität sieht man vor allem bei jungen Trainern wie Tedesco und Nagelsmann, die teilweise im Spiel ihr System mehrmals ändern. Gehört Trainertypen wie ihnen die Zukunft im Fußball?
Ja, genau. Das kann man so sagen.
Dieser Text ist zuerst erschienen im Nachrichtenportal t-online.de.