Die zurecht von Kritik überflutete Weltmeisterschaft in Katar ist für die Truppe von Hansi Flick vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte. Nur zwölf Tage lang durfte über Aufstellungen und Auswechslungen diskutiert werden. Nur zwölf Tage lang durfte Deutschland im Club der Großen mitspielen. Aus in der Gruppenphase – schon wieder. Bereits beim Turnier 2018 in Russland hatte sich ein Muster aufgetan: Nicht bissig genug spielt diese Mannschaft auf, defensiv zu instabil. Und wieso wird er nicht gefunden, dieser Führungsspieler, den es beim spektakulären Erfolg von 2014 zur Genüge gab? Hach, die gute alte Zeit.
Fast melancholisch blickt der Fan in mir zurück auf eine sorgenfreie Fußballwelt. Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Mein größter Kritikpunkt: Seit wann schießen wir uns auf einen Spieler ein? War nicht immer die Mannschaft der Star? Im Gegensatz zu anderen Nationen brauchten wir keinen Ronaldo, Neymar oder Messi. Bei mir ging es um das Gefühl des Zusammenhalts. Mir war ein Kevin Großkreuz auf der Bank genauso wichtig, wie ein Bastian Schweinsteiger auf dem Platz. Und plötzlich passiert genau das Gegenteil.
Wir heben einzelne Spieler zu hoch. Heute Füllkrug, morgen Sané, gestern Musiala. Die komplette Verantwortung ruhte plötzlich auf einem Neunzehnjährigen, früher teilten sich die Spieler diese Last. Ich feiere ihn für seinen Einsatz bei einem Top-Wettbewerb, der die Mannschaft von Spiel zu Spiel stärker gemacht hat. Dennoch sollten wir aufhören, einzelne Spieler auf ein Podest zu stellen, erst recht, wenn sie so jung sind. Ich fasse zusammen: Er ist nicht der Star, sondern die Mannschaft. So war es mal, so ist es heute leider nicht mehr.
Werden wir aber wieder fußballerisch - wer braucht schon Emotionen. Ein Blick auf die gesamte Gruppenphase dieser WM zeigt: Nicht eine Mannschaft ist bisher problemlos durch den Wettbewerb gekommen. Auch Belgien (WM-Dritter 2018) ist ausgeschieden, Geheimfavorit Dänemark muss sich nach einer fast makellosen Quali, sieglos von der WM verabschieden. Selbst mein Titelfavorit Brasilien verliert ihr letztes Gruppenspiel gegen Nr. 43 der Welt Kamerun. Auffällig und traurig war es, dass Top-Spieler wie Sadio Mané, Marco Reus, Karim Benzema, Christopher Nkunku (u.v.m.) diesen Wettbewerb verletzungsbedingt gar nicht erst antreten konnten. Der intensive Spielplan, dem die europäischen Topteams ausgesetzt sind, hatte früh seine Spuren hinterlassen.
Aber zurück zur deutschen Leistung. Ein Twitter-User schrieb: Achtjährige Kinder kennen keine deutsche Nationalmannschaft im WM-Achtelfinale. Das stimmt nur bedingt. 4. Platz bei der WM 2015, Viertelfinale 2019 – wissen Sie, worauf ich hinaus möchte? Genau, auf den Frauenfußball. Die deutsche Frauennationalmannschaft hält die Fahne im wahrsten Sinne des Wortes hoch. Sie haben uns obendrein einen wundervollen Fußballsommer mit einer höchstspannenden EM in England beschert, inklusive Vizemeisterschaft.
Jeder, der es einfach mit dem Fußball hält, darf sich trotz Herren-WM-Aus auf einen spannenden Winter einstellen: Bayern München und Wolfsburg spielen in der UEFA Women‘s Champions League bis kurz vor Weihnachten um den Einzug ins Viertelfinale – und die Chancen auf ein Weiterkommen stehen sogar sehr gut. Die Wölfinnen spielen bisher eine perfekte Bundesliga-Saison (neun Spiele, neun Siege) und ernten dafür endlich den Zuschauerzuspruch, den sie verdienen.
21.297 Fans kamen zum Bundesliga-Topspiel des VfL gegen Vizemeister Bayern im Oktober. Auch die Frauen von Werder Bremen und Eintracht Frankfurt durften bereits vor über 20.000 Zuschauern spielen. Die Damen treten endlich aus dem Schatten, der ihnen ein wenig aufgezwungen wurde: nicht schnell genug, nicht präzise genug, nicht gut genug (Eigenschaften, die ironischerweise jetzt wieder der Männer-Nationalmannschaft zugeschrieben werden). Diese Zweifel sind jedoch nur so lange berechtigt, bis ihnen mit Fakten widersprochen werden kann.
Jule Brand (VfL Wolfsburg) ist in einem EM-Spiel 30,6 km/h gelaufen. Der deutsche Final-Gegner England stellt mit 85,6 Prozent Passgenauigkeit Platz zwei nach den Spanierinnen (86,8 Prozent). Dieser Fußball ist attraktiv, dieser Fußball macht Spaß. Kauft Euch ein Ticket und macht Euch Euer eigenes Bild.
Übrigens: Frauen waren es beim deutschen WM-Aus der Männer, die für einen Eintrag in die Geschichtsbücher gesorgt haben. Stéphanie Frappart leitete als erste Schiedsrichterin überhaupt ein Herren-WM-Spiel und wurde dabei bestens unterstützt von Neuza Back und Karen Diaz Medina als Linienrichterinnen. Es war und ist also nicht alles schlecht in diesem Fußball-Winter.