In der deutschen Fernsehlandschaft ist im Moment viel Bewegung zu beobachten. Vor allem eine Tendenz zeichnet sich seit Monaten ab: Die privaten Sender setzen auf mehr Seriosität und angeln sich zu diesem Zweck prominente Nachrichtensprecherinnen und Sprecher der Öffentlich-Rechtlichen. Zu beobachten war beispielsweise schon der Wechsel Jan Hofers von der "Tagesschau" zu RTL, wogegen seine ehemalige Kollegin Linda Zervakis bei ProSieben anheuerte.
Nun kann RTL den nächsten Coup verzeichnen: Wie der Sender vermeldete, lässt Pinar Atalay die "Tagesthemen" hinter sich und moderiert im August das große Wahl-Triell mit Peter Kloeppel. Die Privaten scheinen sich mit neuen Gesichtern momentan geradezu zu überbieten, doch ob der rasante Kurswechel wirklich aufgeht, ist durchaus fraglich.
Während Trash-TV-Formate es zunehmend schwerer haben und Skandale über Social Media immer stärker auf die Sender zurückfallen, boomt auf der anderen Seite der Ausbau der Informations- und Nachrichtenangebote. Politischen und gesellschaftlich relevanten Themen wird mehr Platz eingeräumt, bestehende Unterhaltungsshows werden entschärft.
Dabei planen RTL und ProSieben ihren Kurswechsel eigentlich genau zur richtigen Zeit, schließlich steht im Herbst die Bundestageswahl an. Eine bessere Gelegenheit, um durch hochwertigen Journalismus zu glänzen, ist praktisch kaum denkbar. Speziell die Einbindung von Pinar Atalay zeigt nun die großen Ambitionen von RTL im Hinblick darauf. Die 43-Jährige sagt selbst gegenüber dem Sender:
Ebenfalls positiv für den Sender: Beliebte Sprecher, die schon länger an Bord sind, können offensichtlich gehalten werden, was für viele Stammzuschauer eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben dürfte. Peter Kloeppel allein hinter seinem Pult ist super, mit Pinar Atalay kann es praktisch nur noch besser werden.
Genau wie Linda Zervakis für ProSieben bedeutet Pinar Atalay für RTL außerdem einen Schritt hin zu mehr Diversität: Das Personal wird jünger und weiblicher, hinzukommen Atalays türkische Wurzeln als Einwanderer-Tochter. Es passt einfach alles zusammen.
Zudem wissen die RTL-Chefs: Das Präsentieren von Nachrichten ist eine Sache, die kompetente Einordnung von Geschehnissen eine andere. Natürlich könnten die Verantwortlichen ebenso Sprecher-Talente aus den eigenen Reihen aufbauen, doch Pinar Atalay bringt nun einmal auch aus dem Stand die Zugkraft mit, die es braucht. Geduld muss man sich erst einmal leisten können.
Speziell in Zeiten von Corona ist sicherlich ein gesteigertes Informationsbedürfnis beim Fernsehpublikum zu beobachten – der Hype um Politik-Talks wie "Markus Lanz" ist genau so zu erklären. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass sich die Privaten mit ihrem ruckartigen Wandel verkalkulieren. RTL mag mehr Seriosität anstreben, ist in den Köpfen vieler aber dennoch erst einmal weiterhin ein Sender, der in erster Linie Unterhaltung liefert. Lässt sich dieses Image so schnell abschütteln?
Bei aller Euphorie um die Neuzugänge traf der Sender in den vergangenen Monaten auch die eine oder andere Entscheidung, die von zahlreichen Zuschauern negativ aufgenommen wurde. Insbesondere der Rauswurf von Dieter Bohlen sorgte erst einmal für Entsetzen, ist allerdings wohl der konsequente Preis für den neuen Kurs. Ihm fehlt am Ende nicht zuletzt eben jene Haltung, mit der ProSieben und RTL ihre Neuzugänge Zervakis und Atalay explizit anpreisen.
Das neue RTL mag gehaltvoller, womöglich aber auch ein gutes Stück langweiliger sein. Mit Blick auf die aktuelle Entwicklung der Privatsender spricht Medien-Experte Ferris Bühler dann auch von einem "sehr großen Wagnis" und prophezeit gegenüber watson: "Ein soft-flauschiges Family-Weichspüler-Fernsehen für die ganze Familie wird RTL meiner Meinung nach nie werden." Und weiter: "Wenn Jan Hofer, Hape Kerkeling und Co. nun Dieter Bohlen ersetzen sollen, so finde ich dies riskant."
Über Dekaden hinweg wurden die Privatsender vorrangig mit Unterhaltung und die Öffentlich-Rechtlichen mit Sachlichkeit assoziiert. Dieses Schema aufzubrechen, muss nicht schlecht sein, könnte das Publikum vorerst aber stark irritieren, zumal der Prozess rasant vorangetrieben wird. Und da RTL und ProSieben im Gleichschritt gehen, könnten sie sich auch schnell gegenseitig auf den Füßen stehen. Ob die Rechnung aufgeht, zeigt sich für beide immerhin noch in diesem Jahr: Auch Linda Zervakis geht im frühen Herbst mit ihrer neuen Sendung an den Start. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.