
Timothée Chalamet, die Blaupause im Film-Marketing.Bild: Invision / Scott A Garfitt
Analyse
Die Pressearbeit im Filmgeschäft war einst ein klarer Pfad. Heute gleicht sie einer Schnitzeljagd durch die Subkulturen des Internets. Was bleibt, ist das Prinzip Hoffnung – auch darauf, dass sich die Filme daran ein Beispiel nehmen.
27.07.2025, 13:0027.07.2025, 13:00
Ein paar Zeitungsinterviews in Qualitätsmedien, mit überschlagenene Beinen in Talkshows sitzen, eventuell noch mit Hotdog in der Hand auf dem Jumbotron eines Baseballteams präsidial winken. Mehr brauchte es nicht, über Jahrzehnte hinweg, um einen neuen Film erfolgreich zu bewerben.
Heute fährt Timothée Chalamet mit einem Lime-Fahrrad auf den roten Teppich, Cynthia Erivo und Ariana Grande benehmen sich in Interviews wie zwei Avatare aus der Beta-Version des Metaverse und Glen Powell verwischt gezielt die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, indem er kultiviert, dass da womöglich doch mehr mit seinem Co-Star Sydney Sweeney laufen könnte. Manchmal, sagte Powell, sei es schwierig, zwischen dem echten und dem gespielten Leben zu unterscheiden.
Der unvorhersehbare Erfolg von Film-Marketing
Presse-Touren haben sich verändert. Sie sind unberechenbarer geworden. Wie erreicht man in einer fragmentierten Öffentlichkeit überhaupt noch ein Publikum? An welchen Stellschrauben lässt sich drehen, welche Aufmerksamkeitsbeschleuniger, welche Youtube-Shows, Podcasts und Outlets bringen den gewünschten Erfolg? Kurz gesagt: Wie wird ein Film heute noch erfolgreich?
Die Medienbranche ist ratlos. "Früher gab es Königsmacher", sagt ein Literaturagent gegenüber "Vulture". Rezensionen, Radio, Fernsehspots. "Nichts von alledem funktioniert mehr als Grundpfeiler einer Kampagne. Jetzt muss alles gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen kommen, und selbst dann klappt es nicht immer. Das ist total verrückt."
Früher, sagt ein langjähriger PR-Manager, konnte man faul sein. "Jetzt muss man sich tatsächlich überlegen, was man eigentlich machen möchte."
Von Harvey Weinstein ins Chaos
Harvey Weinstein war es, der in den 90er Jahren, lange bevor seine sexuellen Übergriffe öffentlich wurden, als erster die Vermarktung von Filmen wie eine politische Kampagne verstand. Damit legte er den Grundstein der heutigen Filmwerbung.
Insbesondere im Vorfeld der Oscar-Verleihungen inzenierte Weinstein, damals Geschäftsführer der Produktionsfirma Miramax, eine Geschichte, ein Narrativ rund um die Filme und ihre Schauspieler:innen, er schickte sie zu Mittagessen, zu Diskussionsrunden und Partys, um mit den Mitgliedern der Academy in Kontakt zu kommen, und möglichst viel buzz zu erzeugen.
Rund um den Miramax-Film "Mein linker Fuß", ein irisch-britsches Drama über einen Jungen mit zerebraler Kinderlähmung , trat Hauptdarsteller Daniel Day Lewis in Washington auf, um das Gesetz für Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Später wurde er als bester Hauptdarsteller bei den Academy Awards ausgezeichnet.
Die Möglichkeiten waren begrenzt und die Medien linear. Weinstein nutzte sie alle. Heute herrscht pures Chaos.
"Chicken Shop Date" oder "Call Her Daddy"?
Mit der Zersplitterung der Öffentlichkeit ging die Dezentralisierung des Mediensystems einher und umgekehrt – auf einmal gab es eine schier unendliche Auswahl an Bühnen, auf denen Akteur:innen ihre neuen Projekte vorstellen konnten. Schauspieler:innen gingen in Youtube-Shows und Pocasts, tauchten ein in Nischen und Subkulturen.
Der Vorteil an den dezentralen Medienformaten: weniger Kritik, zielgruppenspezifischere Reichweite. Zwar bleiben einzelne journalistische Player im tradierten Portfolio, schließlich haben nicht alle Menschen Tiktok. Sie verlieren aber zunehmend an Bedeutung.
Doch wo soll man überhaupt auftreten? "Smartless"? "Chicken Shop Date"? "Call Her Daddy"? "Hot One's"? "Vulture" schreibt: "Die Arbeit im neuen Medienkreislauf bedeutet oft, schnell so viel wie möglich an die Wand zu werfen, um zu sehen, was hängen bleibt."
Timothée Chalamet: Die Blaupause der Filmvermarktung
In jüngster Vergangenheit gab es vermutlich niemanden, der das Spiel mit den aus den Angeln gehobenen Medienlogiken so perfektioniert hat wie Timothée Chalamet.
Eine unvollständige Auswahl seines Wanderzirkus' zu "A Complete Unknown": Chalamet fachsimpelte auf Youtube über Schallplatten, erklärte dem Manosphere-General Theo Von die Grundzüge von öffentlich gefördertem Wohnungsbau und prophezeite in einer Expertenrunde aus ESPN-Journalisten als einziger den Sieg von Ohio gegen Miami in einem College-Footballspiel.
Timothée Chalamet ist schlicht sehr gut darin, ein Star zu sein. Zu keinem Zeitpunkt kam der Gedanke auf, dass er sich nicht wirklich in jedem seiner Auftritte wohlfühle. Der "Guardian" war der Meinung, dass er allein für seine Oscar-Kampagne einen Oscar verdient hätte.
Ähnlich allgegenwärtig war bis dahin nur die Aufmerksamkeit rund um die Vermarktung von "Wicked", weil Cynthia Erivo und Ariana Grande in jedem Interview emotional derart überpegelt waren, dass die "New York Times" Ende vergangenen Jahres fragte, ob der wahre 'Wicked'-Film vielleicht sogar die Pressetour sei.
Es geht, das lässt sich aus diesen Beispielen schließen, bis zu einem gewissen Grad schlicht darum, stattzufinden, über einen längeren Zeitraum. In der Hoffnung, die (sozial)mediale Aufmerksamkeit übersetzt sich in Kino-Tickets.
Aber was war eigentlich mit "Barbie"?
Wenn man versucht, die neue Vermarktungsformel auf zwei Punkte herunterzubrechen, dann vielleicht auf folgende: Authentizität (Chalamet) und, in Ermangelung eines Begriffs, der diese Art von Meta-Kommentar umfasst: Kreativität (Erivo/Grande).
Woran es Filmen vermehrt mangelt, gilt auch für deren Vermarktung: Das Publikum sehnt sich nach echter künstlerischer Vision statt nach Service-Kino. Ein unorthodoxer Blockbuster wie "Sinners" fand erheblich mehr Zuspruch als das stromlinienhafte Marvel Cinematic Universe, das kaum noch mehr ist als ein schlecht gelaunter Franchise-Algorithmus.
Früher galt in der Öffentlichkeitsarbeit das Prinzip der scheinbaren Mühelosigkeit: Wer bei der Papstwahl allzu deutlich nach dem Amt greift, wird nicht gewählt. Heute herrscht im Filmmarketing das Prinzip der maximalen Sichtbarkeit. Viel hilft viel, und mit der eigenen Ambition muss man nicht mehr hinter dem Berg halten. "Ich weiß, dass die Leute normalerweise nicht so reden, aber ich will einer der Großen sein", sagte Chalamet als er den SAG-Award verliehen bekam.
Das Besondere ist: Der Erfolg lässt sich eben nicht reproduzieren. Authentizität und Kreativität sind keine Schablonen, die sich schematisch auf Filme legen lassen. "Vieles in diesem Geschäft ist ein Wunder", sagt der PR-Manager, der von den Tagen der Faulheit träumt, gegenüber "Vulture". "Alles muss genau richtig sein und auf seine eigene Art und Weise gut sein."
"Barbie" ist vielleicht das beste Beispiel dafür, das auf den ersten Blick wie der Gegenbeweis wirkt. Die Kampagne kombinierte Nostalgie, Meme-Ökonomie, Diversitätsversprechen und über 100 Markenkooperationen mit einem globalen Set aus Influencern, Popstars und ikonischer Farbgebung. Die Wirkung aber entstand nur, weil Timing, Netzlogik und kollektives Popverlangen sich für einen kurzen Moment überlappten. Man kann darauf hoffen, aber gewiss nicht darauf setzen.
Andere Filme, die versuchten, ähnliche Mechanismen zu wiederholen floppten krachend. "The Marvels" an seiner eigenen Beliebigkeit, während sich "Mean Girls" ironisch von sich selbst distanzierte und dabei vergaß, warum das Original überhaupt mal funktioniert hat.
Der nächste Film von Timothée Chalamet ist "Marty Supreme", ein Sportdrama unter der Regie von Josh Safdie. Chalamet saß zuletzt mitsamt allerlei Prominenz bei den Playoff-Spielen der New York Knicks. Vielleicht hat die Pressetour schon längst begonnen, und wir haben es nur noch nicht bemerkt.