Irgendwann steht Markus Lanz mitten mitten in der Schneelandschuft der nordschwedischen Stadt Kiruna. In der örtlichen Mine wird 80 Prozent des Eisenerzes für die EU abgebaut, aber sonst ist eigentlich nicht viel los. Da kommt ein Mann mit einer XXL-Packung Toilettenpapier auf seinem Schlitten angefahren. "Das ist eine Menge Toilettenpapier", stellt Lanz trocken fest und der Mann antwortet. "Ich habe schließlich eine Frau." Es ist der absurdeste und gleichzeitig großartigste Moment der Reportage "Markus Lanz – Schweden ungeschminkt" über das skandinavische Land und seinen Sonderweg in den Zeiten von Corona.
Hierzulande wurde das Toilettenpapier vor ziemlich genau einem Jahr zum Symbol fürs Hamstern im ersten Corona-Lockdown. Schweden verzichtete auf den Lockdown. Bis heute. Anfangs neidisch beäugt, mit wachsenden Infektions- und Todes-Zahlen immer kritischer betrachtet. Markus Lanz hat sein Hamburger Talkshow-Studio verlassen und ist im Dezember 2020 sowie im im Januar 21 in Schweden auf Reportagereise gegangen, um den Sonderweg zu erkunden. Oder wie Markus Lanz es im Off-Kommentar etwas dramatischer formuliert: "Was es heißt, wenn ein ganzes Land seinen eigenen Weg geht".
Gleich am Anfang trifft er den schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tygnell, der für den schwedischen Weg verantwortlich ist. Lanz trägt Mundschutz, Tygnell nicht. Lanz fragt, ob sie sich jetzt auch die Hände geben können. "Kein Händeschütteln mehr", lehnt Tygnell ab. Stattdessen Ellenbogen-Bump. "Kann ich sie abnehmen?", fragt Lanz und zeigt auf seine Maske. "Ja bitte, so kann ich sie viel besser verstehen." Der Epidemiologe findet Mundschutz "nicht besonders angenehm", eine Maskenpflicht gibt es in Schweden genauso wenig wie andere Regeln. "Statt auf gesetzliche Maßnahmen zu setzten, reden wir mit den Menschen", erklärt Tygnell. Er setzt auf Empfehlungen.
Die Lanz-Reportage ist auch immer eine Personality-Show des Moderators. Ständig ist er im Bild mit seiner Foto-Kamera. Damit macht er durchaus intensive Schwarzweiß-Fotos der Gesprächspartner und Szenen, die im Film immer wieder eingeblendet werden. Ganz nebenbei lässt Lanz seine Eindrücke einfließen, oder kleine Prahlereien, zum Beispiel, dass er den Bestseller-Autor Jonas Jonasson ("Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand") "schon seit Jahren" kennt. Auch er trägt keine Maske, auch sie begrüßen sich mit Ellenbogen-Bump. "Willkommen im maskenlosen Schweden", sagt Jonasson breit lächelnd zu Lanz mit seiner FFP2-Maske. In Schweden hat die Regierung bis zu Lanz' Reise nicht zu Masken geraten. Wer eine trägt, gilt schon fast als Regierungskritiker. "Sie müssen nur die Anzahl der Masken draußen zählen, dann wissen sie wie beliebt die Regierung ist", sagt Jonasson. Auf den Straßen trägt keiner eine.
"Wer Maske trägt, ist gegen das System“, fasst auch der Allgemeinmediziner und Spezialist für Globale Gesundheit, Stefan Hanson, die Stimmung zusammen. Er selbst hat eine dabei, aber die Stimmung im Land sei: Lockdown und Masken seien "der Antichrist". Der Grund: Die Schweden schätzten ihre selbstbestimmte Freiheit über alle Maßen. Und Masken. Und außerdem habe man eben alles andere ganz gut hinbekommen. Von Frauenrechten bis Kinderschutz.
Mit steigenden Zahlen wird aber auch der Ruf nach einem härteren Durchgreifen lauter. Vor Weihnachten hatten die Schweden ähnlich hohe Todeszahlen wie Deutschland, aber das bei nur einem Achtel der Einwohner. Bei Lanz' zweiten Besuch im Januar hat sich die Stimmung dann gewandelt. Sogar der König äußert sich.
Es wurde ein Untersuchungsausschuss für die Corona-Politik eingerichtet. Im Altenheim in Berga sind von 96 Bewohnern 43 an Corona gestorben. U.a. auch, weil viele Pflegekräfte in Schweden eine Art Tagelöhner sind, die morgens spontan gebucht werden, so wenig verdienen, dass sie mit leichten Symptomen lieber Geld verdienen gehen und ständig in anderen Einrichtungen Schichten schieben müssen.
Lanz trifft eine von den vielen Todesfällen traumatisierte Pflegerin. Doch Staatsepidemiologe Anders Tegnell sagt: "Sie haben nichts falsch gemacht, sie haben wirklich ihr Bestes gegeben. Es liegt am System dahinter."
Das hilft weder der Pflegerin, noch der Tochter eines Verstorbenen. "Nein, da gibt es kein Vertrauen mehr, keinerlei Vertrauen“, bilanziert sie bitter ihr Verhältnis zur Regierung.
Im Januar hat die Regierung dann doch dringend empfohlen, Masken in Bussen und Bahnen zu tragen. Zumindest in der Rushhour. Andres Tygnell, der im Dezember noch sicher war, dass Schweden nie Masken tragen würden, erklärt wenig überzeugend: "Wir sind uns im Klaren, dass die zusätzliche Wirkung der Masken nicht sehr groß ist." Aber manchmal könnten auch kleine Sachen den Ausschlag geben.
Obwohl es keinen Lockdown gab, gibt es in Schweden mittlerweile eine Rekordarbeitslosigkeit von fast 10 Prozent – ein Drittel mehr als vor der Pandemie. Es trifft vor allem junge Leute und Migranten. Anne Mia Ekström, Professorin für Globale Infektionsepidemiologie am Karolinska Institut findet es richtig, wenn die Politik nicht alles Denken an Corona ausrichtet, sondern alle Aspekte des Lebens berücksichtigt ("Wer in Panik gerät, bekommt einen Tunnelblick und ist nicht mehr in der Lage, das Gesamtbild zu sehen."). Lanz gegen ihre Aussagen die Intensivstations-Schilderungen des Chefarztes eines Krankenhauses, das ebenfalls Karolinska heißt.
Bei der ZDF-Sendung "Volle Kanne" hat Markus Lanz vor der Ausstrahlung seiner Reportage erzählt, dass es "eine Frage der Perspektive" sei, ob Schweden richtig gehandelt habe. Aber immerhin sei es dort "gelungen, die Gesellschaft deutlich besser zusammenzuhalten als uns". Dafür kenne fast jeder Schwede, den man in Stockholm auf der Straße frage, jemanden, der schwer erkrankt war oder sogar an Covid gestorben ist.
Lanz' Fazit, das er im Off auf die Schwarz-weiß-Bilder von Stockholm bei Nacht spricht: "Mit ihrem Alleingang haben die Schweden Mut bewiesen. Mit einem fatalen Einsatz von Menschenleben. Das Ende des Sonderwegs steht bevor. Das blitzsaubere Image – mehr als angekratzt."
Der Moderator, der wegen seines blitzsauberen Images immer wieder viel Spott auszuhalten hat, hat seine Prominenz genutzt, um eine Reportage zu drehen, die es sonst wohl so nicht im ZDF gegeben hätte. Seine Selbstinszenierung – geschenkt. Und auch wenn die 72 Minuten an manchen Stellen abschweifen, etwa in die Probleme der Samen und ihrer Rentiere, hat der Markus Lanz hier doch ein durchaus sehenswertes Stück TV produziert.