Mit "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" wird die gleichnamige Skandal-Biografie von Christiane F. aus dem Jahr 1978 neu aufgelegt – diesmal als Serie bei Amazon Prime mit zahlreichen aufstrebenden Jungstars vor der Kamera. Zu ihnen zählt auch Lena Urzendowsky, die bereits in den Netflix-Hits "Dark" und "How to Sell Drugs Online (Fast)" zu sehen war.
Watson interviewte die Newcomerin anlässlich des Serien-Starts und erfuhr, wie bei den Drogen-Szenen am Set getrickst wurde. Zudem sprach Lena offen über ihre persönlichen Grenzen als Schauspielerin.
watson: "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" hat damals sehr polarisiert – sowohl Buch als auch Film. Denkst du, das könnte bei der neuen Serie ähnlich sein?
Lena Urzendowsky: Absolut! Ich glaube, dass die Serie sogar noch mehr polarisieren könnte, weil noch ein Punkt hinzukommt, über den sich streiten lässt. Denn jetzt geht es auch darum: Wie unterscheidet sich die Serie vom Film, inwiefern ist die Inszenierung vergleichbar, was ist besser? Ich kann mir vorstellen, dass es viel Gesprächsbedarf geben wird.
Warst du mit dem Film und der Buchvorlage denn schon vorher vertraut oder hast du dich damit erst richtig auseinandergesetzt, als du für die Rolle in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" engagiert wurdest?
Ich kannte den Film. Das Buch habe ich erst in Vorbereitung auf die Serie und das Casting gelesen.
Die Serie nimmt sich im Vergleich einige Freiheiten heraus. Sie beleuchtet intensiver die Entwicklung einer ganzen Clique um Christine F. und du spielst Christianes Freundin Stella. Was hat die Rolle für dich besonders attraktiv gemacht?
Als ich das Drehbuch gelesen habe, wusste ich sofort, wie Stella einen Raum betreten würde. Ich hatte gleich eine Vorstellung von ihrem Auftreten und ihrem Selbstbewusstsein. Sie hat diese Art, über den Dingen zu stehen, vielleicht weil sie schon viel Schlimmes erlebt hat. Für Stella sind typische Teenager-Probleme gar nicht mehr von Belang. Sie kümmert sich um ihre zwei kleinen Geschwister und schmeißt die Kneipe der Mutter, die selbst Alkoholikerin ist. Dadurch hat sie eine andere Sichtweise. Ich fand es schauspielerisch sehr spannend, einen so jungen Menschen zu spielen, der schon einen so erwachsenen Blick auf die Welt hat.
Stella lebt wirklich sehr selbstbestimmt und geht trotz den Widrigkeiten um sich herum immer ihren eigenen Weg. Würdest du sie sogar als feministische Figur bezeichnen?
Das ist eine total spannende Frage! Stella ist sich ihrer Körperlichkeit sehr bewusst und setzt diese auch ein. Im klassischen Sinne ist es eigentlich nicht feministisch, wenn eine Frau ihre Sexyness, gerade auch im Umgang mit Männern, so instrumentalisiert – zumindest könnte man das erstmal denken.
Aber nur auf den ersten Blick...
Betrachtet man aber die Zeit, aus der sie kommt, ist Stella eine sehr fortschrittliche und freie Figur. In der Serie wird es zwar nicht ganz deutlich, aber eigentlich war der Charakter bisexuell angelegt. Da sie mit Männern hauptsächlich negative sexuelle Erfahrungen gemacht hat, ist es gut möglich, dass sie später, wenn sie älter ist, eine längere Beziehung zu einer Frau eingeht.
Auch Stella rutscht in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" ins Drogenmilieu ab. Verrate doch mal, wie die Szenen gedreht wurden, in denen die Figuren Drogen konsumieren.
Stella snieft Drogen ja "nur". Ich habe immer Heilerde gesnieft. Manchmal blieb das Zeug am Naseneingang kleben und wenn ich mir dann später die Nase geputzt habe, kam der ganze braune Schleim raus. Auch für die, die sich in der Serie Drogen spritzen, wurde natürlich eine ungefährliche Lösung gefunden.
Gewalt ist in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" ebenfalls ein großes Thema. Welche Szenen waren insofern schwierig für dich?
Es gab einige Szenen, die sehr herausfordernd waren. Eine Vergewaltigung spielt man nicht mal eben so nebenbei an einem Nachmittag. Andererseits sind solche Szenen für mich als Schauspielerin auch besonders abenteuerlich. Man muss sich gut vorbereiten, hat viel zu recherchieren. Man kann dementsprechend tief einsteigen und einen intensiven Zugang zu der Rolle finden. Das macht die schauspielerische Arbeit interessant. Man kommt morgens auch mit einer ganz anderen Spannung ans Set. Genau das liebe ich an dem Beruf: Manchmal werde ich morgens abgeholt und kann noch gar nicht einschätzen, ob ich die Szenen, die an dem Tag anstehen, packe bzw. ihnen gerecht werde. Insofern ist auch Nervenkitzel dabei.
Würdest du denn sagen, dass die Rolle der Stella die größte Herausforderung deiner bisherigen Karriere war?
Auf jeden Fall eine der ganz großen, aber nicht nur vom spielerischen Aspekt her. "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" haben wir über sechs bis acht Monate hinweg gedreht. Für eine anspruchsvolle Rolle in einem Spielfilm stehst du dagegen maximal zwei Monate vor der Kamera und dann ist es auch vorbei. Eben diese Energie für ein halbes Jahr lang am Stück abzurufen, das ist etwas ganz anderes. Auch in meinem Privatleben nehme ich intensiver Dinge wahr, die mit der Thematik zu tun haben. Plötzlich fällt mir zum Beispiel der Gang einer fremden Person auf der Straße auf und ich denke: "Geht so vielleicht jemand, der gerade Heroin genommen hat?"
Die Arbeit an "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" war aber sicher auch etwas ganz anderes als der Dreh der Netflix-Serie "How to Sell Drugs Online (Fast)", oder?
Von der Thematik natürlich schon. Aber was bei "How to Sell Drugs" richtig schwer ist, ist das Lernen des Texts! Da wird so schnell und viel gesprochen, hinzukommen diverse Computerfachbegriffe. Das ist die größte Schwierigkeit.
Gibt es auch Dinge, die du nie vor der Kamera tun würdest?
Ich bin schon sehr vorsichtig, was Nacktheit betrifft. Sie darf nicht Selbstzweck sein, sondern sollte dazu beitragen, eine Geschichte zu erzählen. In "Kokon" hatte ich zum Beispiel Nacktszenen, aber in dem Film geht es gerade darum, die eigene Sexualität zu entdecken. Es war ein wichtiger Teil des Coming-of-age-Aspekts. Wenn man sich genauso gut etwas überziehen kann und es für die Aussage einer Szene keinen Unterschied macht, warum sollte man dann nackt sein? Als Frau fühle ich mich dann irgendwie instrumentalisiert.
"Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" spielt nicht in der Gegenwart, sondern zur selben Zeit wie das Original. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich, schließlich ist es eine Neuinterpretation. So aber sieht man in der Serie zum Beispiel Audiokassetten statt Handys.
Das mag ich total gerne! Hier sehe ich mal etwas, womit ich nicht den ganzen Tag lang konfrontiert bin, wenn ich durch die Straßen laufe. Auch die Art und Weise des Redens ist in der Serie eine ganz andere. Zum Beispiel fällt dort oft der Ausdruck "Mensch!", wenn sich jemand ärgert. Das sagt heute fast niemand mehr. Es war allerdings eine bewusste Entscheidung, dass nirgends eine konkrete Jahreszahl erscheint, so hat die Serie dennoch etwas Zeitloses. Als Schauspielerin kann ich somit letztlich auch meine Fantasie besser laufen lassen.
Aber in anderen Aspekten ist die Serie wiederum ja durchaus zeitgemäß.
Das Thema Sucht in Verbindung mit Coming-of-age ist total aktuell. Die Flucht vor den eigenen Problemen mithilfe von Drogen vollzieht sich heute vielleicht anders als damals – das alles findet nicht mehr so sehr auf der offenen Straße, sondern mehr hinter geschlossenen Türen statt. Aber Sucht an sich ist dennoch einfach ein zeitloses Thema.
Nach "Dark" und "How to Sell Drugs Online (Fast)" ist "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" eine weitere Serie, die du für einen großen Streaming-Dienst gedreht hast. Setzt du hierbewusst einen Schwerpunkt für deine schauspielerische Karriere oder ist es dir auch wichtig, Kinofilme zu drehen?
Die Vielfalt ist das Allerschönste. Ich liebe Independent-Kinofilme und ich möchte auf keinen Fall aufhören, eben solche zu drehen. Ich schaue sie mir auch persönlich sehr gerne an. Wenn ich entscheide, was ich abends schaue, achte ich immer auf ein wenig Abwechslung und so möchte ich es auch im Beruf handhaben – nicht nur, was das Genre, sondern auch die konkreten Figuren betrifft, die ich spiele.
"Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" ist zum 19. Februar als Stream bei Amazon verfügbar. Alle Fans kommen zudem mit der Audio-Dokumentation "Das Berlin der Kinder vom Bahnhof Zoo" bei Audible auf ihre Kosten.