Am Hintereingang zum Jugendzentrum in Bökenförde habe ich zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Der Typ fuhr Roller und war damit der Coolste in der Clique. Es war eine Zeit von großen Gefühlen, von viel zu vielen, viel zu süßen Energy-Drinks und von amerikanischem Hiphop.
Natürlich lief damals auch der Musiker, um den es in dieser Kolumne geht. Wir hörten "Bad Boy for Life" und "I'll Be Missing You". P. Diddy hat meine Jugend geprägt.
Aktuell steht der Musiker in New York vor Gericht. Der Prozess ist schon jetzt der aufsehenerregendste seit dem Beginn von #MeToo und den Vorwürfen gegen Ex-Filmproduzent Harvey Weinstein. Es geht um sexuelle Übergriffe und Missbrauch. Aber vor allem geht es um Macht. Seine Ex-Freundin, die Sängerin Casandra "Cassie" Ventura, ist die Hauptzeugin. Er selbst bestreitet alle Vorwürfe und plädiert auf nicht schuldig.
P. Diddy war über Jahrzehnte einer der einflussreichsten Stars der Musikindustrie.
Zielstrebig war Sean Combs, wie er bürgerlich heißt, immer schon: Der Junge, der als Halbwaise und in prekären Verhältnissen in Harlem aufwuchs, war mit 20 Vice-President des Plattenlabels Uptown-Records. Mit 23 gründete er sein eigenes, Bad Boys Records. Er hatte Mariah Carey, Aretha Franklin, The Notorious BIG und Mary J. Blige unter Vertrag. Außerdem gehörten eine Mode- und Wodkamarke zu seinem Milliarden-Imperium. Jahrelang schien es für ihn nur bergauf zu gehen.
Mit erfolgreichen Menschen umgeben sich bekanntlich auch andere gerne: Er feierte legendäre "White Partys" mit Stars wie Beyoncé, Jay-Z, Kim Kardashian und Leonardo DiCaprio.
Doch der Glamour von P. Diddy hatte Schattenseiten: Viele waren schockiert von Fotos dieser Partys, die jetzt öffentlich wurden. Darauf zu sehen waren junge Frauen, die unbekleidet auf einem Tisch lagen. Um sie herum Schokolade, Früchte, Berge von Häppchen. Diese Frauen waren angerichtet, sie waren Teil des Buffets, an dem P. Diddy und seine Gäste sich bedienen konnten. Schon hier kann man sich fragen: Wie groß muss ein Männer-Ego sein, um andere so geringzuschätzen?
Auch Hinweise auf Gewaltausbrüche und sexuellen Missbrauch kursieren seit langem. Doch hören wollte man die Gerüchte lieber nicht. Wie so oft, wenn es um die Verfehlungen von Männern mit Macht geht.
Jetzt sitzt Sean Combs seit neun Monaten als Häftling 37452-04 in Untersuchungshaft. Cassie Ventura hat das Schweigen als erste gebrochen: Sie hatte ihn bereits 2023 verklagt und ihm körperliche Gewalt, sexuellen Missbrauch und psychische Kontrolle während ihrer langjährigen Beziehung vorgeworfen. Doch die Klage wurde damals nach nur einem Tag mit einer finanziellen Einigung beigelegt.
Auch hier passierte, was ein altbekanntes Muster ist: In der Öffentlichkeit wurde sie als geldgierige Ex-Partnerin diffamiert.
Der Wendepunkt in Combs' Fall kam im Mai 2024, als CNN Videoaufnahmen aus dem Jahr 2016 aus einem Hotel veröffentlichte: Sie zeigten, wie er brutal auf Ventura eintrat.
Bei einer Durchsuchung von Combs’ Anwesen in Los Angeles und Miami fanden Ermittler:innen laut Anklageschrift illegale Waffen, Munition, Drogen sowie mehr als 1000 Flaschen Babyöl und Gleitmittel, die mutmaßlich bei seinen Sexorgien, sogenannten "Freak-offs", verwendet wurden.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Sexhandel, Prostitution und organisierte Kriminalität vor. Zudem gibt es eine ganze Reihe von Zivilklagen. Mehr als 120 Personen erheben schwere Vorwürfe.
Der Fall erinnert viele an R. Kelly, der 2022 in New York unter anderem wegen Kinderpornografie und Verführung Minderjähriger zu einer Haftstrafe von 30 Jahren verurteilt wurde. Oder an den früheren Filmproduzenten Harvey Weinstein, der 2020 wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung zu 23 Jahren Haft verurteilt wurde. (Das höchste New Yorker Gericht hob dieses Urteil wegen Verfahrensfehlern auf, aktuell läuft eine Neuverhandlung.)
All diese Fälle haben etwas gemeinsam: Diese Männer waren so erfolgreich, dass sie keine Grenzen mehr kannten, nicht mal im Umgang mit anderen Menschen. Sie haben ihre Position und ihre Macht ausgenutzt. Oronike Odeleye von der #MuteRKelly-Bewegung glaubt, dass im Showbusiness Männer in Machtpositionen ihre Privilegien besonders ungehemmt ausspielen können: "Sie glauben, sie können nehmen, was sie wollen – ohne Konsequenzen."
Woran sie vermutlich nicht oder kaum denken: Sie fügen ihren Opfern, meist Frauen, dadurch massiven Schaden zu. Cassie Ventura sagte: "Nach Jahren von Schweigen und Dunkelheit bin ich endlich so weit, meine Geschichte zu erzählen." Auch, um damit anderen Opfern von Gewalt und Missbrauch zu helfen. Denn viel zu oft ist die Scham, sind existenzielle Ängste zu groß, um darüber sprechen zu können.
Es haben so viele Frauen und Männer unter P. Diddy gelitten, jahrelang. Doch niemand hat etwas gesagt oder getan – woran man vor allem sieht, wie fest das Machtgefüge um ihn war. Es kostet Überwindung, gegen eine so mächtige Person vorzugehen.
Auch die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal erklärt in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung": "Je hierarchischer Verhältnisse sind, in denen Menschen leben, desto eher neigen diese Menschen dazu, Grenzen zu überschreiten, auch sexuelle Grenzen." Und: "Dabei geht es natürlich meist ganz klar nicht um Sex oder primär um die sexuelle Befriedigung. Dabei geht es um Hierarchie und Macht."
Als Cassie Combs 2005 kennenlerne, war sie 19, er 37 Jahre alt. Sie wollte Musikerin werden, er hat sie direkt unter Vertrag genommen. Ein Machtgefälle zeigte sich in ihrer Beziehung also gleich mehrfach.
Mehr als sieben Jahre ist es her, dass die #MeToo-Bewegung Fahrt aufgenommen hat. Immer wieder muss man feststellen, dass die Gesellschaft noch zu wenig daraus gelernt hat.
In den USA, wo ein verurteilter Missbrauchstäter zum Präsidenten gewählt wurde. Geschlechterpolitisch auch in Deutschland, wo die neue Regierung ein Kabinett aufgestellt hat, in dem der Frauenanteil auf rund ein Drittel gesunken ist.
Gleichzeitig beobachten wir, dass sich sehr wohl etwas getan hat. Dass das, was früher möglich war, heute nicht mehr hingenommen wird.
Schauspieler Adrien Brody hat Halle Berry 2003 bei den Oscars ungefragt einen Kuss auf den Mund gedrückt. Der Übergriff wurde als einer der schönsten Momente der Verleihung gefeiert. Als der spanische Fußball-Verbandschef Luis Rubiales bei der Frauen-WM 2023, also 20 Jahre später, einer Spielerin einen Kuss aufgedrängt hatte, musste er völlig zu Recht zurücktreten.
Auch ich für meinen Teil kann sagen: Zeiten ändern sich. Energy-Drinks sind heute nicht mehr meins, mit dem Jungen aus Bökenförde würde ich nicht mehr knutschen. Und P. Diddy ist definitiv nicht der Soundtrack, den ich mir dazu wünschen würde. Hiphop höre ich immer noch. Aber lieber von Künstler:innen, gegen die keine Missbrauchs-Vorwürfe erhoben werden.
Zwei Monate dauert der Prozess wahrscheinlich. Und dabei geht es nicht nur um P. Diddy, sondern auch um die Frage, ob einflussreiche Männer mit systematischem Machtmissbrauch heute immer noch davonkommen – und was es braucht, um solche Strukturen aufzubrechen. Es wird sich zeigen, wie groß der gesellschaftliche Backlash ist. Und auch, was die #MeToo-Bewegung wirklich erreicht hat.