Sind schwere Waffen an die Ukraine die Lebensader des Landes – oder nur ein weiterer Schritt auf der Eskalationslinie mit Russland? Ein offener Brief von Intellektuellen an Bundeskanzler Olaf Scholz positionierte sich nun in dieser Frage und löste damit eine heftige Debatte aus.
Die Diskussion über die Forderung der berühmten Unterstützer des Briefes stand auch bei "Markus Lanz" zur Debatte. Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, selbst Mitverfasser und Unterzeichner, verteidigte die Grundgedanken des Briefes und stand damit in der ZDF-Sendung auf verlorenem Posten. Moderator Markus Lanz warf dem Gast "Täter-Opfer-Umkehr" vor.
Das waren die Gäste bei "Markus Lanz" am 3. Mai:
Ein offener Brief, der in dieser Woche im Magazin "Emma" veröffentlicht wurde, löst derzeit – analog wie digital – heftige Debatten aus. Gemeinsam mit Prominenten wie Alice Schwarzer und Lars Eidinger warnt der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel darin vor einer atomaren Eskalation.
In ihrem offenen Brief mahnen die Unterzeichner die Ukraine an, aus Verantwortung ihrer Zivilbevölkerung gegenüber, einen Waffenstillstand mit Russland zu forcieren und fordern Olaf Scholz indirekt dazu auf, die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine einzustellen.
Der Hintergrund seien zwei "politisch-ethische Grundgedanken", so Merkel. Einerseits habe jede Regierung Schutzpflichten gegenüber ihrer Bevölkerung, die den Widerstand der Ukraine gegen den Aggressor Russland rechtfertigen würden. Andererseits aber gebe es auch die Pflicht, Leib und Leben der Bevölkerung zu schützen. Beide Schutzpflichten stünden in der Ukraine derzeit im Widerspruch.
Reinhard Merkel argumentierte weiter, dass ein Sieg der ukrainischen Armee in der kriegerischen Auseinandersetzung "eine Illusion" sei, weshalb die Lieferung schwerer Waffen aus dem Westen den Krieg nur unverhältnismäßig verlängere. Gleichzeitig behauptete er, dass die aktuelle Überlegenheit der Ukraine und die militärische Schwächung Russlands derzeit die besten Voraussetzungen für die Aushandlung eines Waffenstillstands brächten.
Die Politologin Jana Puglierin bezeichnete den offenen Brief und die Forderungen darin als "zynisch". Heftig und klug argumentierte sie bei "Markus Lanz" gegen die Position der Unterzeichner und stellte fest:
Schließlich hätten die Waffenlieferungen aus Deutschland und den anderen Nato-Staaten überhaupt erst dazu geführt, dass das russische Militär sich habe zurückziehen müssen.
Die Expertin vom European Council on Foreign Relations sprach sich klar gegen die Haltung Reinhard Merkels aus und erklärte: "Für mich käme das unterlassener Hilfeleistung gleich."
Die Politologin gab sich nach eigenen Angaben Mühe, den Punkt Merkels aus einem moral-philosophischen Blickwinkel zu verstehen, bemerkte jedoch schließlich: "Für mich ist das die Ausgeburt dessen, was in Deutschland so viele Jahre schief gegangen ist: Eine Politik über die Köpfe der Osteuropäer hinweg, zusammen mit Russland."
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert schloss an diesen Punkt an, indem er sagte: "Ich bin der Überzeugung, dass nur die Ukraine selbst über die Bedingungen, wann ein akzeptabler Zwischenstand für Verhandlungen erreicht ist, entscheiden kann." Jedoch treffe dieser Brief im Kern auch eine weit verbreitete Stimmung in Deutschland, die die Frage betreffe: "Wie wird das alles nicht zu einem Flächenbrand?"
Der Journalist Robin Alexander stimmte Politologin Jana Puglierin in ihren Argumenten gegen den offenen Brief zu, reagierte jedoch zunächst stets diplomatisch. Als Reinhard Merkel jedoch über die Pflicht der Ukraine gegenüber ihren eigenen Kindern sprach, die im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht in der Lage wären, sich rechtskräftig für diesen Krieg zu entscheiden, änderte der "Welt"-Chefredakteur seine Haltung:
"Wenn ich höre, dass Sie die Tapferkeit oder den Widerstand der ukrainischen Armee in einen Widerspruch setzen zum Wohlergehen der ukrainischen Kinder, dann bin ich fast bei der Beurteilung Armin Nassehis", so Alexander. Der Soziologe sprach in Reaktion auf den Brief von "politischem Analphabetismus".
Jana Puglierin brachte den Zynismus des offenen Briefes sowie der Argumente des Rechtsphilosophen Merkel und die Irrationalität des brutalen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf den Punkt, als sie sagte:
Es bleibt zu hoffen, dass die bisherigen Erfahrung des Krieges sowie entsprechende politischen Entscheidungen eine eben solche verhindern.