Das Riesenrad im Münchner Werksviertel dreht sich geräuschlos. Majestätisch thront es über dem Vorzeigeareal der Landeshauptstadt. Vor ein paar Jahren tobte hier noch das Münchner Nachtleben. Wild, schmutzig, ekstatisch. Der Kunstpark Ost war das größte Nightlife- und Kultur-Areal Europas. Dann rollten die Bagger an.
Heute ist am Münchner Ostbahnhof alles anders. Doch in diesen Tagen weht doch noch altehrwürdiger Charme übers Gelände. Denn zwischen dem Riesenrad und der Tonhalle, wo früher Pfanni Millionen Kartoffeln lagerte und heute Konzerte gespielt werden, steht ein Zirkuszelt. Circus Roncalli ist in der Stadt. Und die Menschen kommen in Scharen.
Für viele Besucher:innen, die nicht schon 2019 zu Gast waren, ist der Gang zu Roncalli so etwas wie eine Premiere. Seit 2018 ist Roncalli kein Zirkus mehr, sondern ein "Circus-Theater", wie Direktor Bernhard Paul sein Veranstaltungszelt nun nennt. Denn das elementare Element eines klassischen Zirkus hat Paul 2018 für immer abgeschafft: die Tiere.
Kaum stand das neue Konzept, legte die Pandemie den Zirkusbetrieb lahm. Seit 2022 ist Roncalli wieder auf Tour. Nun stellt sich die Frage, wie die Menschen die endgültig tierfreie Show auf Dauer annehmen – Löwen und Elefanten hatte der Zirkus schon Anfang der 90er gestrichen.
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Vier Wochen lang wird Roncalli täglich ausverkaufte Shows vermelden, es gibt für München aktuell nur noch Restkarten. Und das, obwohl das Zelt 13 Mal pro Woche öffnet. Knapp 1500 Plätze bietet es. Wer am Wochenende in den ersten Reihen sitzen will, musste teils schon vor Monaten Tickets kaufen. Trotz Preisen von bis zu 70 Euro werden beinahe 100.000 Menschen den Zirkus besucht haben, wenn er Mitte November München gen Bremen verlässt.
Sie alle werden dann die Videoprojektionen gesehen haben, die an vergangene Zeiten erinnern. Eröffnet wird die Show von einem digitalen Intro. Mit Tieren. Das wirkt nett, doch so richtig beeindruckend ist das nicht, weil man technisch schon spektakulärere Dinge gesehen hat. Vielleicht verfestigt sich der Eindruck auch aufgrund der Dinge, die wenige Minuten später folgen – und deutlich mehr im Gedächtnis bleiben.
Maria Sarach eröffnet die Show namens "All for Art for All" endgültig. Als lebendes Kunstwerk. Sie benötigt nur ein Kostüm, einen Stuhl und verdammt viel körperliche Biegsamkeit, um erahnen zu lassen, was Zuschauende in den kommenden zwei Stunden erwarten dürfen.
Die Show, die Circus Roncalli bietet, ist eine Mischung aus Humor, Varieté, Tanz und Akrobatik. Es ist noch immer die Mischung, die man seit Jahrzehnten aus dem Zirkus kennt. Die einen finden den Clown (nicht) witzig, die anderen begeistern sich für Menschen am Trapez. In jedem Fall ist es Kunst der Weltklasse. Daran gibt es keinen Zweifel.
Die Stimmung ist gut an diesem Tag, der Wirbel um Pauls erboste Begrüßungsrede vergessen. Der Zirkusdirektor hatte vor einigen Tagen gegen die Stadt München geätzt, weil er sich schwertat, einen Stellplatz zu finden. 70.000 Euro müsse er bezahlen, sagte er öffentlich. Er habe gedacht, man hätte ihm den Platz verkauft.
Inzwischen hat Paul sich entschuldigt, zumal er fälschlicherweise die Stadt München beschuldigt hatte, der der Platz im Werksviertel überhaupt nicht gehört. Dennoch hat er mit seinem Gepolter für Aufsehen gesorgt, auch weil die Münchner Prominenz, angeführt von Uli Hoeneß, ziemlich geschlossen zur umjubelten Premiere gekommen war.
In München steht auch Pauls Tochter Lili Paul-Roncalli in der Manege. Die 25-Jährige ist das junge Gesicht der Zirkusfamilie, gehört aber nicht zur Stammbesetzung. Sie wird und will mit ihrer Schwester und ihrem Bruder den Familienbetrieb leiten, sobald der heute 76-jährige Vater das nicht mehr kann. In den vergangenen Jahren hat man Lili auch an anderer Stelle in der Öffentlichkeit gesehen, beispielsweise als Kandidatin der RTL-Show "Let's Dance".
Die Kinder werden in überdimensionale Fußstapfen treten, denn Paul mag zwar eigenwillig und schrullig daherkommen, ist aber gleichzeitig der visionäre Kopf hinter den Roncalli-Programmen.
Lili und ihre Geschwister sind längst involviert in den Betrieb, wenn auch nicht federführend: "Mein Papa trifft immer noch die letzten Entscheidungen", sagte sie vor wenigen Tagen im Interview mit "Hallo München".
Die 25-Jährige glaubt an den Zirkus als Geschäftsmodell: "Er wird immer bleiben", sagte sie, solange man mit der Zeit gehe. "Wenn man etwas erleben will, muss man schon vor die Haustür gehen. Live-Entertainment ist nicht mit Streaming-Diensten zu vergleichen. Da haben nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene etwas zum Lachen und Staunen. Und können so wunderbar den Alltag vergessen."
Und zweieinhalb Stunden die Realität vergessen, das kann man im Zirkus tatsächlich. Wer im Roncalli-Zelt sitzt und das Publikum beobachtet, kann sehen, dass man selten so wenig Menschen mit dem Smartphone in der Hand sieht, weil so gut wie alle Zuschauer:innen sich aufs Hier und Jetzt und nicht aufs Fotografieren konzentrieren.
Auch ohne Tiere kann man sagen: Die Faszination, die Magie, die Aufregung dieses Ortes sind ungebrochen. Auch wenn der von Lili Paul-Roncalli angesprochene Wandel anhalten wird. Nur ein paar Kilometer weiter, im nicht minder legendären Circus Krone, startet bald das Winterprogramm. Mit Tieren. Debatten um Tierschutz inklusive.
Da ist Roncalli schon deutlich weiter, wird aber auch andere gesellschaftliche Entwicklungen nicht ausblenden können. Ein Bernhard Paul mag es angemessen finden, mit "liebe Kinderinnen und Kinder" seine Meinung zum Gendern zum Ausdruck zu bringen. Sein Nachwuchs wird solch ein Gehabe nicht mehr nötig haben. Und sich gegebenenfalls auch die Frage stellen, an welchen Stellen im Programm Frauen wirklich ohne Hose auftreten müssen, um das Publikum zu begeistern.
Am Ende der Show verlässt die Masse das Zelt zufrieden. Der Zirkus mag wie ein Relikt aus alten Zeiten erscheinen, doch er befriedigt das Bedürfnis, einfach mal den Kopf auszuschalten, wie eh und je. Weshalb es nicht einer tragischen Komik entbehrt, dass Clown Anatoli Akerman einer der größten Stars des Circus Roncalli ist.
Akerman ist Israeli mit russisch-ukrainischen Wurzeln.
Mehr muss man vermutlich nicht sagen, um zu verstehen, warum die Sehnsucht nach ein paar Stunden im Zirkus heute größer denn je ist.