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In Neuseeland bekommen Opfer häuslicher Gewalt bald 10 Tage Urlaub – und hier?

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In Neuseeland bekommen Opfer häuslicher Gewalt bald 10 Tage Urlaub – und hier?

26.07.2018, 06:36
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Mal ist es ein wütendes Wegschubsen, mal eine Ohrfeige, mal eine Vergewaltigung. Experten vermuten, dass rund ein Viertel der Frauen in Deutschland Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Sehr unterschiedlich fallen die Zahlen zur Stärke der Gewalt aus, je nachdem ob man sie in der Polizeilichen Kriminalstatistik oder in diversen Studien nachschaut. Dazu kommt: Es ist nicht klar, wie hoch die Dunkelziffer ist.

In Neuseeland wurde nun ein Gesetz beschlossen das vorsieht, Opfern von häuslicher Gewalt zehn Tagen bezahlten Urlaub zu geben. Am 1. April 2019 soll es in Kraft treten. 

"Dieses Gesetz ist ein Gewinn für die Opfer, für die Arbeitswelt und für uns alle."
Jan Logie, Politikerin und Initatorin des GesetztesNZHerald
Welche Folgen hat häusliche Gewalt?
Über häusliche Gewalt wird kaum gesprochen – obwohl die Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit fatal sein können. Opfer schämen sich. Weil die Gewalt im privaten stattfindet, wird sie oft als Privatsache angesehen. 

Das soll das Gesetz in Neuseeland bewirken: 

  • Opfer häuslicher Gewalt sollen jährlich bis zu zehn Tage bezahlten Urlaub nehmen können. Dieser Urlaub soll unabhängig vom regulären Urlaub und anderen Krankheitsausfällen gewährt werden. 
  • Opfern sollen flexible Arbeitszeitmodelle ermöglicht werden. 
  • Häusliche Gewalt als Grund für Diskriminierung soll im "Human Rights Act" verboten werden. Das ist ein Gesetz des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, welches festlegt, dass alle Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, ausdrücklich auch im Vereinigten Königreich – wozu auch Neuseeland gehört – gelten.
  • Für Arbeitgeber soll es eine Richtlinie geben, wie sie mit Personen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, am Arbeitsplatz umgehen sollen. (nzherald.co.nz)

Wir haben bei Anna Hartman vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe nachgefragt, wie der Stand in Deutschland ist und was sie von diesem Gesetz hält.

watson.de: Wie werden Opfer in Deutschland geschützt?

Anna Hartmann: Mit der Einführung des Gewaltschutzgesetzes 2002 sollte sich die Situation von Betroffenen deutlich verbessern. Das regelt, dass von häuslicher Gewalt betroffene Frauen zum einen beantragen können, dass ihnen die Wohnung für einen längeren Zeitraum zugewiesen wird und der Täter die Wohnung nicht mehr betreten darf.

Zum anderen können sie auch eine sogenannte Gewaltschutzverfügung erwirken, in der dem Täter zum Beispiel jede Kontaktaufnahme, sei es per Telefon, per Mail, per Brief oder persönlich, verboten wird und ihm ebenfalls verboten wird, näher als zum Beispiel 100 Meter an die Betroffene, an deren Wohnung, ihre Arbeitsstelle, die Kita des Kindes, die Wohnung der Großeltern, etc. heranzukommen. 

Wird das Gesetz Ihrer Erfahrung nach praktisch angewendet?

Nein, es wird nicht konsequent umgesetzt und nicht immer werden Betroffene ernst genommen. Eines der größten Probleme besteht, wenn Opfer und Täter gemeinsame Kinder haben. Oft kollidiert dann der Schutz der Mutter mit dem Umgangsrecht des Vaters. Unklar ist die Anwendung des Gewaltschutzgesetzes und der Möglichkeit zur Wegweisung außerdem oft in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Geflüchtetenunterkünften.

Das neue Gesetz in Neuseeland soll da wesentlich weiter gehen. Für wie wahrscheinlich halten Sie eine derartige Regelung hier? 

Mir ist nichts dergleichen bekannt. In Deutschland gibt es faktisch keine direkte Betroffenenentschädigung für häusliche Gewalt. Zehn bezahlte Urlaubstage halte ich demnach für eher unwahrscheinlich.

Aber häusliche Gewalt ist doch strafbar? 
Häusliche Gewalt ist in Deutschland kein eigener Straftatbestand. Aber: Sie geht meistens mit einem anderen Straftatbestand, wie Beleidigung, Körperverletzung, sexuellem Missbrauch oder Sachbeschädigung einher. Das wiederum sind Straftatbestände, gegen die die Opfer Anzeige erstatten können. So kann ein Ermittlungsverfahren gegen den Täter eingeleitet werden und die Opfer können auf diesem Weg eine Entschädigung bewirken. (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
Zusätzlich können Opfer häuslicher Gewalt eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz beantragen. 

Außerdem sind mit dieser Regelung auch noch viele Fragen verknüpft: Muss von der betroffenen Frau nachgewiesen werden, dass häusliche Gewalt vorliegt? Ist hierfür eine Anzeige notwendig? Viele Betroffene schämen sich, Gewalterfahrungen öffentlich zu machen – wenn sie den unbezahlten Urlaubsanspruch erwirken wollen, wissen zugleich die Kollegen Bescheid. 

Können zehn Tage den Opfern helfen?

Bezahlte Urlaubstage können eine kleine Anerkennung des erlittenen Unrechts sein, das ist wichtig für den Umgang mit den Gewalterfahrungen. Betroffene benötigen oft etwas Zeit, um zu entscheiden, was sie tun wollen und wie es weitergehen soll. Auch eine erste Beratung könnte in dieser Zeit in Anspruch genommen werden.

Könnte es auch Probleme geben? 

Problematisch ist, dass die Betroffenen sich hierfür im Arbeitsumfeld als gewaltbetroffen 'outen' müssen. Oft kommen dann bestimmte gesellschaftliche Erwartungen und Druck, sich zu trennen, hinzu.

Häusliche Gewalt findet zudem oft über einen längeren Zeitraum statt und ist geprägt durch eine Dynamik körperlicher und psychischer Gewalt.

Urlaubstage könnten helfen, diese Dynamik zu durchbrechen, sie können aber ebenso Teil der Dynamik werden. 

Was kann ich tun, wenn ich selbst Opfer häuslicher Gewalt wurde? 

Wichtig ist, dass gewaltbetroffene Frauen wissen, wo und bei wem sie Hilfe bekommen – das Umfeld und enge Bezugspersonen sind hierfür sehr wichtig.

Betroffene Frauen können sich zur Beratung und Unterstützung immer an eine ambulante Fachberatungsstelle in ihrer Nähe wenden oder Zuflucht in einem Frauenhaus suchen. Die Fachberatungsstellen unterstützen und beraten gewaltbetroffene Frauen und Mädchen, aber auch Angehörige, Bezugspersonen oder Fachkräfte.

Seit 2013 gibt es in Deutschland das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen. Hier können Betroffene, aber auch Unterstützer, rund um die Uhr und kostenfrei anrufen. Das Hilfetelefon bietet Erstberatung und Vermittlung zu einer passenden Fachberatungsstelle.

Anonym mitmachen: 
Jede vierte Frau in Deutschland erlebt mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt. Darüber müssen wir sprechen. Wurdet auch du Opfer davon und möchtest mit uns - gerne anonym - darüber sprechen? Dann schreib uns an redaktion@watson.de.
Wie findet ihr die Regelung in Neuseeland? Schreibt es uns in die Kommentare! 

Und jetzt was schönes: Unsere Erde von oben 

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