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Corona: Epidemiologe hält Lockdown bis Weihnachten für "praktisch unumgänglich"

Viele Menschen befürchten, dass der Lockdown bis Weihnachten oder länger dauert. (Symbolbild)
Viele Menschen befürchten, dass der Lockdown bis Weihnachten oder länger dauert. (Symbolbild)Bild: E+ / PeopleImages
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Epidemiologe Scholz hält Lockdown bis Weihnachten für "praktisch unumgänglich"

13.11.2020, 05:0015.11.2020, 16:59
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Seit dem 2. November befindet sich Deutschland wieder im Lockdown, wenn auch nur in dessen "Light"-Variante: Im Gegensatz zum Stillstand im Frühjahr dürfen Schulen und Kitas weiter geöffnet bleiben, auch der Einzelhandel und Frisöre mussten ihre Türen nicht schließen.

Am 16. November will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten treffen, um über die aktuelle Lage zu beraten. Große Hoffnungen auf Lockerung der Maßnahmen besteht angesichts der stark gestiegenen Corona-Fallzahlen allerdings nicht.

Wie es mit dem "Lockdown light" nun weitergehen könnte, ob es sinnvoll ist, dass Schüler immer noch größtenteils vor Ort unterrichtet werden und ob wir ein normales Weihnachtsfest erleben werden: Darüber hat watson mit Markus Scholz gesprochen. Er ist Epidemiologe an der Uni Leipzig und untersucht aktuell die Corona-Pandemie. Mit seiner Arbeitsgruppe betreibt er seit 15 Jahren Infektionsforschung anhand von mathematischen Modellen.

"Selbst bei optimistischen Annahmen zur Wirksamkeit würden wir nur einen allmählichen Rückgang der Neuinfektionen erwarten."

watson: Reicht der "Lockdown light" Ihrer Meinung nach aus, um die Infektionszahlen deutlich zu reduzieren?

Markus Scholz: Wir beobachten aktuell zumindest eine Abschwächung des Anstiegs der Neuinfektionen, aber noch keine Trendwende hin zu niedrigeren Zahlen. Da die Maßnahmenverschärfungen erst seit knapp zwei Wochen bestehen, sind unsere Modellprognosen zur weiteren Entwicklung noch unsicher. Aber selbst bei optimistischen Annahmen zur Wirksamkeit würden wir nur einen allmählichen Rückgang der Neuinfektionen erwarten.

Gibt es Bereiche, die aus epidemiologischer Sicht ebenfalls hätten beschränkt werden müssen, wie zum Beispiel Schulen?

Den Bereich Schule schätze ich in der Tat kritisch ein. Es kann angenommen werden, dass zumindest ältere Kinder die Infektion genauso übertragen wie Erwachsene. Sie bleiben aber häufiger asymptomatisch, sodass die Infektionsketten schwerer nachvollziehbar sind und die Dunkelziffer entsprechend höher liegt. Kinder erkranken in der Regel zwar weniger schwer, tragen die Infektion aber gegebenenfalls in ihre Familien und entsprechende Risikogruppen. Inzwischen gibt es mehrere hundert Berichte von Corona-Fällen an Schulen. Schulen im Präsenzbetrieb sind im Prinzip tägliche Großveranstaltungen mit mehreren hundert Teilnehmern in sehr beengten Räumlichkeiten.

Wenn man sich politisch entscheidet, dies zu gewährleisten, so müsste dies meines Erachtens durch wesentlich verbesserte Hygienekonzepte begleitet werden. Dazu gehören neben den AHA+L-Regeln im gesamten Schulgebäude für Personal und Schüler auch regelmäßige Testungen des Personals, möglichst kleine Lerngruppen, die Entzerrung des Schulwegverkehrs sowie gegebenenfalls technische Nachrüstungen (zum Beispiel Aerosolfilter oder Trennwände). Man muss feststellen, dass die RKI-Empfehlungen für Schulen aktuell nicht umgesetzt werden.

"Die Dynamik hat uns schon überrascht, und unsere Modelle, wie auch die anderer Arbeitsgruppen, hatten diesen Trend in der Tat unterschätzt."

Sie selbst hatten in einem anderen Interview mit watson geschätzt, dass bis Weihnachten die Neuinfektionen 20.000 pro Tag betragen werden, Angela Merkel gab eine ähnliche Prognose ab. Diese Marke wurde jetzt schon überschritten. Überrascht Sie der schnelle Anstieg? Und wie erklären Sie ihn sich?

Über mehrere Wochen fand ein über-exponentieller Anstieg statt, das heißt, die Verdopplungszeit nahm immer weiter ab – ein Verhalten, dass wir in der ersten Welle so nicht beobachtet hatten. In diesem Sinne hat uns die Dynamik schon überrascht, und unsere Modelle, wie auch die anderer Arbeitsgruppen, hatten diesen Trend in der Tat unterschätzt. Man muss sagen, dass längerfristige Vorhersagen nach wie vor sehr schwierig und mit großer Unsicherheit behaftet sind. Das gilt auch für unsere aktuelle Einschätzung.

Mögliche Erklärungen für diese Entwicklung sind die abnehmende Effizienz der Kontaktnachverfolgungen bei zunehmender Fallzahl, die Verlagerung von Aktivitäten in Innenräume und die abnehmende Stringenz beim Testen sowie längeren Rückmeldungszeiten – beides bedingt durch die erschöpften Testressourcen.

Was erwartet uns, wenn die Pandemie sich weiterentwickelt und die umfassenden Beschränkungen im Dezember aufgehoben werden?

Da im Vergleich zur ersten Welle relativ spät Maßnahmen ergriffen wurden, ist es nun schwieriger, die Pandemie wieder auf ein beherrschbares Maß zurückzudrängen. Aktuell zeichnet sich auch im Intensivbereich eine Überlastungssituation ab, die wir mit den aktuellen Maßnahmen vielleicht gerade noch so verhindern können. Die Situation ist deshalb kritischer einzuschätzen als im Frühjahr. Dabei stehen wir erst am Anfang der Wintersaison. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass die Maßnahmen im Dezember alle wieder aufgehoben werden können.

Wäre es in Anbetracht der Corona-Infektionszahlen sinnvoll, den "Lockdown light" noch bis Weihnachten oder gar Silvester auszuweiten?

Das halte ich für praktisch unumgänglich.

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