"Die wichtigsten Prägungen erleben wir bis zum neunten Lebensjahr", sagt sie. In dieser Zeit übernehmen Kinder ungefiltert Bindungsverhalten, Vorbilder oder Glaubenssätze – und diese wiegen schwer. Die Kinder- und Jugendpsychologin Miriam Hoff beschäftigt sich seit einiger Zeit mit der Frage, wie sich unsere Kindheitserfahrungen auf unser Ich auswirken können.
Denn oft spürt man die Last dieser Glaubenssätze erst, wenn man als Erwachsene:r ins Straucheln gerät. Schuld daran ist der sinnbildliche "Rucksack aus Erfahrungen", den wir mit uns herumschleppen, erklärt Hoff. "Wenn sich der Lebensweg ständig holprig und zäh anfühlt, kann man den mal absetzen und prüfen, welcher Krempel darin uns so herunterzieht."
Die größte Last stammt dabei oft von den Eltern. Später beschweren uns auch negative Erfahrungen mit Lehrer:innen, Freund:innen oder die ersten großen Liebe.
In ihrem Buch "Therapie für die Seele" (Remote Verlag) widmet sich Hoff genau diesem Ballast und wie man ihn loswird. Für watson besprachen wir mit ihr fünf typische Erziehungsstile und ihre Folgen.
Den leistungsorientierten Erziehungsstil nutzen "Eltern, die ihre Träume auf den Nachwuchs projizieren", sagt Hoff. Ihre Kinder müssten zum Beispiel "Abitur machen oder Turniere gewinnen."
Diese Erwartungen müssen oft nicht einmal formuliert werden. Kinder spüren schließlich auch so, wofür sie Anerkennung oder Enttäuschung ernten.
So hatte Hoff eine Klientin, deren Vater immer als erstes von ihrer Eins in Mathematik erzählte, wenn er über seine Tochter sprach. "Dieses Mädchen hasst Mathe", sagt die Therapeutin, "aber sie hatte gelernt, dass die väterliche Anerkennung an ihre Matheleistung gekoppelt ist. Deshalb quälte sie sich durch wöchentliche Lernsessions."
Das Interessante? Die Selbstwahrnehmung. "Wenn ich solche Eltern – häufig Väter – frage, behaupten die meisten, sie übten keinen Druck aus, verlieren dann aber die Nerven, wenn eine Vier nach Hause gebracht wird", berichtet Miriam Hoff aus der Praxis.
Man könnte hier auch von einer Gefallsucht sprechen. Als Ergebnis dieser Erziehung habe Hoff "Jungs in der Praxis, die sich nicht trauen, ihre Homosexualität oder Freude am Theater zuzugeben, weil sie glauben, ihr Vater hielte sie dann für weich", berichtet sie. Es sei "tragisch."
Diese Kinder würden oft Berufe und Lebenskonzepte ergreifen, die ihnen nicht entsprechen. Hoff: "Dann fällt ihnen irgendwann im Alter auf: Ich bin gar nicht glücklich. Ich verbringe mein Leben damit, den Applaus meines Vaters zu bekommen."
Als Kind solcher Eltern neigst du heute zu: Burnout, Depression und Wegdrücken deiner Bedürfnisse.
Auch das überbehütete Kind führt ein Leben für die Eltern. "Besonders häufig ist dieses Erziehungs-Phänomen bei Frauen, den Helikoptermüttern", erklärt die Expertin
Diese Eltern wirken sehr liebevoll, binden die Kinder aber "auf ungesunde Art an sich", führt Hoff aus:
Überbehütete Kinder haben schlechtes Gewissen, wenn sie ausziehen oder eine Liebesbeziehung priorisieren, da sie damit die Eltern "alleine" ließen. Sie übernehmen Ängste vor der "gefährlichen" Außenwelt und fühlen sich schuldig bei typischen Sätzen wie: "Wir sehen uns nur so selten" oder "Du bist mein Ein und Alles."
"Wenn solche Kinder nicht in den Widerstand gehen, wirkt das maximal entwicklungshemmend", warnt die Expertin. Psychoanalytisch sei die Ablösung jedoch komplex: "Die meisten Kinder wagen nicht, offen gegen die Eltern vorzugehen und entwickeln als 'Ausweg' oft Autoaggressionen: Essstörungen, Ritzen, Extremsport – die Kinder tun alles, um sich selbst zu spüren und den Eltern zu entziehen."
In der Therapie erlebe Miriam Hoff oft, wie erleichtert Kinder seien, wenn sie endlich folgenden Satz hören:
Als Kind solcher Eltern neigst du heute zu: Schuldgefühlen und selbstverletzendem Verhalten.
Diese Eltern kämpfen mit eigenen Problemen – etwa psychischen Erkrankungen, Sucht, Trauma oder prekären Lebensumständen – und können sich nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern.
"In solchen Elternhäusern benötigen Kinder eine hohe Intelligenz und Resilienz, um sich im Alltag zu organisieren, schnell zu reagieren", weiß Miriam Hoff. Sie wirken früh selbstständig, entwickeln feine Antennen für Gefahren aus ihrer Umwelt, sind aber völlig überfordert.
"Ihnen fehlt das Urvertrauen", sagt die Therapeutin. Dieses sei aber entscheidend für jede spätere Bindung:
Die fehlende Aufmerksamkeit gibt dem Kind zudem das Gefühl, nicht wertvoll zu sein, "sondern eher eine Bürde". Das Resultat sind mitunter Abhängigkeitserkrankungen, Orientierungslosigkeit oder sogar kriminelles Verhalten.
Als Kind solcher Eltern neigst du heute zu: Misstrauen gegenüber anderen Menschen, geringem Selbstwert.
Unsicherheit erleben auch Kinder von inkonsistenten Müttern und Vätern. Ihr Zuhause ist geprägt von "zerstreuten Eltern, deren Stimmung permanent schwankt", sagt Hoff. Für den Pups am Esstisch gibt es mal Gelächter, dann Riesenärger.
Auch eine Verletzung wird mal fürsorglich versorgt, dann mit einem "Nerv nicht" abgehandelt. "Die Unberechenbarkeit der Eltern wirkt sich auf das Bindungsverhalten aus", sagt Hoff. "Diese Kinder lernen: Mama findet mich heute ganz toll, aber morgen stößt sie mich weg."
Neben massiver Verunsicherung geschieht dann mitunter etwas noch Komplizierteres, schildert Hoff:
Als prominentes Beispiel fällt Hoff dazu Hape Kerkeling ein. Der Comedian versuchte, als Kind die Depressionen seiner Mutter mit Witzen aufzufangen. "In der Psychotherapie nennen wir das die Entwicklung eines 'falschen Selbst'", erklärt sie. "Diese Kinder wissen nicht mehr, was sie fühlen. Sie sind getrieben von der Angst, dass ihnen freundliche Zuneigung schlagartig und grundlos entzogen wird und passen sich daher maximal an."
Als Kind solcher Eltern neigst du heute zu: Bindungsangst, People Pleasing und Maskieren deiner Gefühle.
Doch es gibt auch heilsame Elternhäuser. Hoff typisiert ihren Erziehungsstil als "autoritativ": "Solche Eltern setzen deutliche Grenzen, aber sie lassen ihre Kinder innerhalb dieser Grenzen frei."
Diese Eltern seien "nicht bedürftig", würden die Kinder nicht als ihren verlängerten Arm, Belastung oder Erfüllung ihrer Träume sehen, sondern als Individuum. Die Therapeutin:
Typischer Satz? "Du weißt, wie es geht, ich lasse jetzt los." oder "Du wirst bedingungslos geliebt". "Das sagen viele", sagt Hoff, "ob es stimmt, erkennst du, sobald du Kleidung oder Jobs wählst, die dem Geschmack der Familie nicht entsprechen." Starke Eltern akzeptieren das.
Als Kind solcher Eltern neigst du heute dazu: Selbstbewusst deinen Weg zu gehen.