
Justin Bieber (Arbeiterkind) und Ehefrau Hailey (nicht so ganz). Bild: GC Images / XNY/Star Max
Analyse
Müllsäcke als Mode-Accesoire, romantische Verklärung von Plattenbau und eine Multimillionärin, die aus der Arbeiterklasse kommen möchte, aber schon als Kind im Rolls-Royce saß. Warum wird Armut derart ästhetisiert?
12.08.2025, 07:2212.08.2025, 07:22
In einer Szene der sehr sehenswerten Netflix-Dokumentation "Beckham" sitzt Victoria "Posh Spice" Beckham in blütenweißer Bluse auf einem Sofa und referiert stolz und nostalgisch darüber, dass ihre Eltern sehr hart gearbeitet hätten. "Wir waren Teil der Arbeiterklasse", schlussfolgert sie, als Protagonist David die Tür einen Spalt öffnet. "Sei ehrlich", sagt er. "In was für einem Auto haben dich deine Eltern zur Schule gefahren?"
Victoria windet sich noch kurz wie die Welse im Brombachsee, muss dann aber resigniert zugeben: "In den Achtzigerjahren hatte mein Vater einen Rolls-Royce."
Bieber und Beckham: Die Ästhetik von Armut
Warum ist es so wichtig, sich als Teil der Arbeiterklasse zu inszenieren, selbst wenn die Fakten dagegen sprechen? Die Szene zeigt, wie tief die Idee der Arbeiterklasse in unserer kulturellen Vorstellung verankert ist – und wie sehr sie mit Authentizität und moralischer Integrität verknüpft wird.
Es gibt eine neue Sehnsucht, die sich durch Social Media zieht, eine Art nostalgische Verklärung des Mangels. Auf Tiktok träumen junge Menschen davon, in Plattenbausiedlungen aufgewachsen zu sein, als wäre das Leben dort ein poetisches Abenteuer, das sie verpasst haben. Justin und Hailey Bieber posierten kürzlich für ein Albumcover in Unterhemden und mit Trailerpark-Ästhetik, und Balenciaga wurde vor einigen Jahren mit einer Tasche vorstellig, die wie ein Müllsack aussieht, für den Preis eines Kleinwagens.
Es ist, als hätte die Welt beschlossen, dass Armut nicht mehr nur ein soziales Problem ist, sondern ein romantischer Lifestyle. Wie konnte es dazu kommen?
In den letzten Jahren hat sich in bestimmten Kreisen eine Praxis etabliert, jede Äußerung mit einem Verweis auf die eigene Sprecherposition einzuleiten. Man spricht nicht einfach, sondern als junger queerer Mann, als Akademikerin aus der Provinz, als Kind von Arbeitereltern, als jemand mit einer spezifischen Erfahrung, die den eigenen Worten Gewicht verleihen soll.
In diesem Kontext hat sich die Inszenierung von Armut als eine mächtige Sprecherposition etabliert. Wer sich als arm oder aus der Arbeiterklasse kommend präsentiert, signalisiert Authentizität, Bodenständigkeit und eine Nähe zu den "echten" Problemen des Lebens. Die Position soll den eigenen Worten eine Schwere verleihen, die unabhängig von der tatsächlichen Lebensrealität funktioniert.
In einer Zeit, in der andere identitätspolitische Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie mit dem Ende der linken Deutungshoheit nun zunehmend an kulturellem Kapital verlieren, bleibt die Frage der Klasse als eine der letzten universellen Währungen bestehen – weil die Rechten längst verstanden haben, sie für ihre Zwecke zu nutzen.
JD Vance nutzt Armut im US-Wahlkampf
Den Republikanern kam das im US-Wahlkampf zugute. Vizepräsident JD Vance, der mit seinem Buch Hillbilly Elegy 2016 den Niedergang der Mittelklasse im Rust Belt nachzeichnete, konnte als Gegenmodell der immer noch als elitär geltenden Demokraten von seiner vermeintlichen Authentizität profitieren: Als Sohn einer drogenabhängigen Mutter und Enkel einer Arbeiterfamilie aus Kentucky wurde ihm Glaubwürdigkeit zugesprochen, als Stimme einer "vergessenen" weißen Unterschicht.
Die Ironie: Tatsächlich wuchs Vance in einem gut situierten Vorort in Ohio auf und verbrachte nur einige Sommer bei Verwandten in Kentucky. Dennoch stimmten 80 Prozent der Wähler in der Region für ihn und Donald Trump.
Es ist paradox: In Deutschland reklamiert die AfD das Sprachrohr der Unterschicht für sich und postuliert in ihrer Politik das Gegenteil. Und in den USA wurde mit der Big Beautiful Bill soeben eine massive Umverteilung von unten nach oben beschlossen.
Die Ästhetisierung von Armut ist nicht neu. Schon Marie Antoinette, die Königin des Überflusses, inszenierte sich als Schäferin, um der Enge des höfischen Lebens zu entfliehen, wie die Modehistorikerin Kimberly Chrisman-Campbell schreibt. Sie ließ sich ein künstliches Dorf auf dem Gelände von Versailles errichten, wo sie in einfachen Kleidern und mit einem Strohhut das Landleben spielte – allerdings ohne die Härten, die damit einhergingen.
Mark Zuckerberg und Steve Jobs: Hoodies als Stilmerkmal
Heute ist diese Dynamik globalisiert und demokratisiert. Tech-Milliardäre wie Mark Zuckerberg und Steve Jobs etablierten früh eine Uniform aus Jeans und Hoodies, die vermeintlich unprätentiös wirkt, aber oft aus teuren Materialien besteht. Mittlerweile kann sich jeder mit einem Instagram-Account in den Look der Arbeiterklasse hüllen, ohne je eine Schichtarbeit geleistet zu haben.
Man könnte sagen: Aus dem Werkzeugkasten der Politik wandert die Ästhetik des Mangels direkt auf den Laufsteg und wieder zurück. Armut als Eintrittskarte ins Reich der Authentischen. Dort, wo ein Politiker den "Kampf der kleinen Leute" beschwört, trägt das Model die passende Jacke dazu. Und wie so oft auf diesem Weg verliert die Idee ihr Gewicht.
Natürlich ist Mode immer ein Spiel mit Referenzen. Sie lebt davon, sich von anderen Einflüssen inspirieren zu lassen, sie zu transformieren und neu zu interpretieren. Ohne die Baggy Jeans des Hiphop gäbe es keine Streetwear, ohne die Arbeitskleidung der Blue-Collar-Jobs keine Denim-Kultur.
Mode hat schon immer Grenzen überschritten, sich aus anderen Lebenswelten bedient und sie in neue Kontexte überführt. Mode ist auch ein Spiegel ihrer Zeit, ein Versuch, die Spannungen und Widersprüche einer Gesellschaft sichtbar zu machen. Der Grat zwischen Hommage und Entfremdung ist schmal. Und die Bestimmung hat viel damit zu tun, wie wohlgesinnt man den Träger:innen gegenübersteht. Also: Wie fällt das Urteil aus?
Armut als Ästhetik oder: Was darf Mode?
Die Ästhetisierung von Armut entfremdet uns von der Realität. Sie verwandelt die Zeichen von Entbehrung in modische Accessoires und macht die Kämpfe der wirklich Armen unsichtbar. Während die Oberschicht Armut als ästhetisches Konzept feiert, bleibt die soziale Mobilität für viele Menschen unerreichbar.
Diejenigen, die wirklich arm sind, haben keine Wahl. Sie können ihre Armut nicht ablegen wie ein Designer-Outfit. Für sie ist Armut keine Ästhetik, sondern eine Realität, die ihren Alltag bestimmt, während im Bundestag Milliardenlücken mit Kürzungen beim Bürgergeld gestopft werden sollen. Was bleibt, ist eine oberflächliche Projektion, die die soziale Kluft nicht überbrückt, sondern sie ästhetisch verschleiert.
So geht die eine Lesart.
Die Ästhetisierung von Armut zeigt, wie tief die Sehnsucht nach Authentizität in einer Welt des Überflusses verankert ist. Sie ist ein Versuch, sich von der glatten Perfektion des Konsums zu lösen, von der makellosen Oberfläche, die keine Brüche zulässt.
Und sie ist ein Ausdruck von Schuld. Die Wohlhabenden versuchen, ihre Privilegien zu kaschieren, indem sie sich in die Ästhetik des Mangels hüllen. Sie wollen nicht als abgehoben wahrgenommen werden, sondern als bodenständig und authentisch.
So geht eine andere.
Die Balenciaga-Tasche, die wie eine Mülltüte aussieht, mag absurd erscheinen, doch sie ist auch ein Kommentar auf die Konsumkultur (wie die Marke selbst), auf die Art und Weise, wie wir Dinge bewerten und mit Bedeutung aufladen. Sie ist womöglich nicht nur ein Symbol für die Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch ein Versuch, diese Kluft zu thematisieren – wenn auch auf eine Weise, die nicht jedem zugänglich ist.
Vielleicht ist es diese Ambivalenz, die so viel Unwohlsein auslöst. Dass immer die Gefahr mitschwingt, als Inspiration für einen irgendwann sinnentleerten Stil herzuhalten, dessen Ursprung verschwimmt. Denn wer denkt bei Jeans heute noch an die Arbeitskleidung der Blue-Collar-Jobs?
Ein Trip nach Spanien kann aktuell ganz schön heiß werden, zumindest im wortwörtlichen Sinne. Die spanische Regierung schlägt Alarm, mehrere Events werden aufgrund extremer Hitzewarnungen abgesagt.
Die Sonne knallt, der Asphalt flimmert und auf Lanzarote wird es jetzt sogar den Märkten zu heiß. Wegen der anhaltenden Hitzewelle hat die kanarische Ferieninsel mehrere Wochenendmärkte abgesagt. Besonders betroffen sind Veranstaltungszeiten zwischen 11 und 19 Uhr am Wochenende des 9. und 10. August, da in dieser Zeit die Hitze ihren Höhepunkt erreichen dürfte.