"Alle reden davon, dass sie mehr Diversity haben möchten. Sie reden und reden und reden. Aber ich, ich bring's an den Start", sagt Heidi Klum strahlend stolz in die Kamera des Teasers zur aktuellen Staffel "Germany's Next Topmodel". Die diesjährige Ausgabe der Castingshow verspricht ein neues, verändertes Konzept und das Ende von veralteten Stereotypen in der Modelbranche. 90-60-90, reine Haut und weiße Zähne sind kein Ausschlusskriterium mehr, um im Business erfolgreich zu werden.
Plus Size Models wie Ashley Graham oder Winnie Harlow mit ihrer Vitiligo-Erkrankung machen es vor. "GNTM" folgt nach. Bereits in den ersten Minuten der Auftaktfolge werden alle Diversity-Kategorien vorgestellt, die offenkundig von Heidi als solche eingestuft wurden. Die kleinste Kandidatin misst 1,54 Meter, die größte 1,95 Meter. Die Altersspanne reicht von 18 bis 68 Jahre. Jede Kleidergröße ist vertreten und auffällig oft sind die Migrationshintergründe der Models Thema in den Interviews.
Ein Blick in Modemagazine oder in die sozialen Netzwerke zeigt: In den letzten Jahren hat sich die Modebranche verändert. Victoria's Secret setzte wegen wiederholter Kritik an zu dünnen Supermodels und mangelnder Zuschauerzahlen die große Laufstegshow bereits 2019 aus, mit Valentina Sampaio hat die Vogue zum ersten Mal ein Transgender Model auf dem Cover.
Es scheint also nur die logische Konsequenz zu sein, dass auch "Germany's Next Topmodel" einen Wandel durchläuft. Doch will Modelcoach Heidi Klum die Branche wirklich verändern oder ist es am Ende doch nur Diversity Washing?
Watson hat die Kritik der Fans zusammengefasst und die ehemalige Kandidatin Jasmin Jaegers sowie Aktivistin David Jakobs um ihre Meinung zu dem Thema gebeten.
Heidi Klum eröffnet die erste Sendung der neuen Staffel mit den Worten: "Die Nachfrage nach Diversity ist jetzt größer denn je. Jetzt suche ich nach neuen Gesichtern mit einer großen Vielfalt an Körpergrößen, Alter und Persönlichkeit." Die Auswahl der diesjährigen Kandidatinnen scheint ihre Aussagen zu stützen. Hat Heidi also den Zahn der Zeit getroffen und verstanden, dass die Modeindustrie revolutioniert werden muss?
Nein, findet ein großer Teil der jungen Zielgruppe, die bei Tiktok ihrem Unmut freien Lauf lässt. Der Vorwurf: Alles Fassade ohne ehrliche Motivation, etwas zu verändern. Die Beweise dafür finden sich in hunderten Videos auf der Plattform. Clips mit dem Titel "Germany's Next Topmodel Momente, die unserer Entwicklung nicht gut taten" sammeln Klicks im sechsstelligen Bereich.
Darin zu sehen sind unter anderem folgende Aussagen von Heidi Klum: "Ungeschminkt kann ich nur sagen (...) Sie hat eine unheimlich schlechte Haut", "Er hatte sich gegen Vanessa entschieden, weil die anderen Mädchen in der Unterwäsche besser aussahen", "Sobald sie lachen muss, sieht man schon, das Gesicht ist nicht ganz so beauty" und "Laura lässt komplett ihren Bauch raushängen.
Wer sich irgendeine Folge aus den ersten 10 Staffeln "GNTM" herauspickt, wird schnell feststellen, dass diese von Bodyshaming und Objektifizierung junger Mädchen geprägt sind.
Damals schien die 48-Jährige also noch viel Wert auf ein "perfektes" Äußeres zu legen, das primär von der Industrie festgelegt wurde. Um es in Heidis Worte zu fassen: "Wenn sie wirklich auf die Laufstege dieser Welt wollen, dann müssen sie tip top in Shape sein".
Die Community ist empört: "Wenn man gemobbt werden will, dann einfach zu 'GNTM'", kommentiert eine Userin. "Das macht unsere Gesellschaft nur noch kaputt", findet eine andere.
Auffällig ist, dass der Diversity-Schwerpunkt erst in der letzten Staffel einen besonderen Boom erlebte, als auch Klums Tochter Leni das erste Mal in der Sendung auftrat. Die 17-Jährige möchte selbst Model werden, ist allerdings nur 1,63 Meter groß und damit eigentlich zu klein für die Branche.
"Jetzt wo Heidis Tochter selbst nicht perfekt ist, ist plötzlich alles erlaubt" schreibt ein User unter die "GNTM"-Kritikvideos bei Tiktok. Tatsächlich zog mit Romina 2021 das erste Mal eine Kandidatin ins Finale, die nur 1,68 groß ist. Kein Zufall, sagen Kritiker, die Heidi Klum vorwerfen, sie würde die Branche nur erweichen wollen, um Türen für die eigene Tochter zu öffnen.
Aber nicht nur die Fans sind alles andere als begeistert vom Diversity-Wettbewerb. Auch die Designer haben ihre Zusammenarbeit abgesagt. So musste Heidi auf einer Pressekonferenz gestehen: "Es sind leider sehr viele bekannte Designer abgesprungen, die vorher zugesagt hatten. Der Grund: Die Maße unserer Models." Die Modewelt scheint in weiten Teilen also noch nicht bereit zu sein, den Wandel in der Gesellschaft auf den Laufstegen zu adaptieren.
Eine Situation in der aktuellen Staffel "GNTM" sorgte besonders für Aufsehen und eine hitzige Diskussion über Rassismus im Netz. Kandidatin Jasmin bekam nach Anordnung von Heidi Klum eine Perücke nach dem "Vorbild von Naomi Campbell". Die Haare waren allerdings so lang, dass sie anschließend nochmal gekürzt wurden.
Im TV sieht es so aus, als hätte Jasmin um die erneute Anpassung gebeten, nachdem Heidi das Set verlassen hatte. "Respektlos" nennt Klum dieses Verhalten und schickt Jasmin daraufhin ohne Foto nach Hause, weil sie beim Entscheidungswalk schlecht gelaufen sei. Kritik seitens der Fans betrifft die unzureichende Auseinandersetzung mit dem Haar von People Of Color.
Gerade aufgrund des Diversity-Ansatzes finde sie es paradox, dass man einer blonden, blauäugigen Kandidaten eine Dauerwelle verpasse und "einer schwarzen, die sowieso 24/7 dem Druck des europäischen Schönheitsideals ausgesetzt ist, eine Perücke zuschmeißt und die dafür dankbar sein soll."
Jasmin, besagte Teilnehmerin der aktuellen Topmodel-Staffel, sagt gegenüber watson: "Die Kritik am Umgang mit Afrohaar in der Sendung kann ich zwar verstehen. Aber ich meine, wir wussten ja, worauf wir uns mit der Teilnahme einlassen.
Sie erklärt ihre Einstellung zum Thema: "Klar, in meinem Fall ist das widersprüchlich, weil ich mich über die Spitzen beschwert habe und ja, man hätte vielleicht einen Stylisten dabei haben sollen, der sich mit unserer Haut und unserer Haarstruktur auskennt. Im Endeffekt, es ist nun mal eine TV-Show."
Auch etwas anderes fiel der Kandidatin bei "GNTM" auf: "Ich habe schon gemerkt, dass wir besonders dramatische Erlebnisse aus unserer Vergangenheit in den Interviews erzählen sollten. Nachdem wir uns alle kennengelernt haben, ist uns aufgefallen, dass fast alle krasse Schicksale hatten. Natürlich hat man sich dann gefragt, ob das etwas mit unserer Teilnahme zu tun hat", gibt die 23-Jährige zu bedenken. "Mir war das allerdings nicht unangenehm, weil ich ein offener Mensch bin. Für mich war das kein Problem."
Dass Jasmin mit ihrem Gesicht, ihrer Größe und und den Körpermaßen dem klassischen Modelideal entspricht, habe ihr bei dieser Staffel vielleicht eher einen Nachteil gebracht, glaubt die Düsseldorferin. "Darüber habe ich auch mit einer anderen Kandidatin gesprochen, die wie ich dem Model-Look entspricht. Wir glauben, dass unser Typ dieses Jahr nicht gepasst hat, weil wir eben nicht divers genug sind."
Noch einmal teilnehmen würde sie nicht. "Nein", bekräftigt sie. "Bewerben würde ich mich nicht mehr. Aber es war trotzdem eine tolle Zeit und ich bin für die Erfahrungen dankbar."
Aktivistin David Jakobs setzt sich für mehr Sichtbarkeit der queeren Community in der Öffentlichkeit ein und hatte im letzten Jahr einen Gastauftritt bei GNTM. Sie sagt gegenüber watson: "Mir liegt es enorm am Herzen, dass Menschen aus der LGBTQIA+ Community in den Mainstream-Medien regelmäßig repräsentiert werden, da nur so das Bild einer vielfältigen Gesellschaft auch für die breite Maße nachhaltig zur Normalität werden kann."
Dasselbe gelte auch für Menschen, die aus anderen Gründen aus dem Raster fallen. "Doch auch, wenn in Sachen Akzeptanz diverser Menschen noch ein weiter Weg vor uns liegt, muss die Diversität nicht immer direkt zum Thema gemacht werden, wenn jemand wie ich irgendwo auftritt", sagt die ausgebildete Friseur- und Make-Up-Artistin über ihr Mitwirken als Stylistin in der Sendung.
"Wir gehören genauso zur Gesellschaft wie alle anderen auch. Darum finde ich es umso wichtiger, dass die Menschen als Ganzes im Vordergrund stehen und sie nicht auf ihr 'Anderssein' reduziert werden – schließlich macht eine Person mehr aus, als nur ein Faktor wie die Sexualität oder Körperform."
Die Diversity-Bemühungen von "Germany's Next Topmodel" findet die Berlinerin gelungen: "Klar kann man bei einem Format wie "GNTM" vieles positiv oder negativ sehen und ihm eine gewisse Oberflächlichkeit unterstellen."
Trotzdem überwiegen für sie die Vorteile: