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Kölner Muezzin-Debatte: Integrationsexperte für Balance im Zusammenleben

Muslime und Musliminnen beim Gebet in einer Moschee.
Muslime und Musliminnen beim Gebet in einer Moschee.Bild: iStockphoto / Rawpixel
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Integrationsexperte zur Kölner Muezzin-Debatte: "Wenn es darauf ankommt, diskutieren wir kleinkariert und auf Stammtisch-Niveau"

14.10.2021, 16:4315.10.2021, 11:27
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In der Domstadt Köln läuten künftig vielleicht nicht mehr nur die Kirchenglocken – auch der Muezzin darf nun seine Gebetsaufforderung über die Stadt rufen. Die Oberbürgermeisterin in Köln, Henriette Reker, beschloss am 7. Oktober ein zweijähriges Modellprojekt, bei dem der islamische Gebetsruf ertönen darf – allerdings nur zum Freitagsgebet zwischen 12 und 15 Uhr und maximal 5 Minuten. Dieses Angebot richtet sich an alle 35 Moscheegemeinden in Köln. In einer Mitteilung der Stadt Köln heißt es, bislang lägen der Stadt noch keine Anträge von Moscheen vor, den Muezzin-Ruf einzuführen.

Erwartungsgemäß rief die Entscheidung der Kölner Oberbürgermeisterin bei einigen Gruppen Empörung und Kritik hervor. Der Integrationsexperte Ahmad Mansour widersprach Rekers Argument von Religionsvielfalt in ihrer Stadt und sagte der Bild-Zeitung, die Betreiber der Moscheen "wollen Sichtbarkeit. Sie feiern den Muezzin als Machtdemonstration über ihre Viertel".

Dabei ist Köln nicht die erste Stadt, die den islamischen Gebetsruf erlaubt. Der Muezzin darf bereits in mehreren Städten in Deutschland rufen, beispielsweise in der nordrhein-westfälischen Stadt Düren. In Köln kocht die Debatte um islamische Glaubensbekenntnisse nicht das erste Mal hoch: Bereits die Einweihung der DITIB-Zentralmoschee durch den türkischen Präsident Erdogan Ende September 2018 sorgte für große öffentliche Empörung. Und 2010 hatte allein der Satz des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, der Islam gehöre "inzwischen auch zu Deutschland", für eine Debatte gereicht. So ist es nicht erstaunlich, dass das Modellprojekt des Muezzin-Rufs nicht stillschweigend hingenommen wird.

watson sprach mit Integrationsexperten und Soziologen darüber, warum der Muezzin-Ruf so hitzig debattiert wird und ob die Bedenken der Kritiker gerechtfertigt sind.

Kenan Güngör ist Soziologe und Experte für den migrationsgeprägten gesellschaftlichen Wandel. Er sieht die Einführung des Muezzin-Rufs etwas differenzierter als Ahmad Mansour: schließlich seien auch Kirchenglocken "ein Machtspruch und eine religiöse Raummarkierung". Der Unterschied zu reinem Glockenläuten ist aber die Botschaft des islamischen Gebetaufrufs – wörtlich übersetzt "Gott ist groß" und „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah“. Erst danach folgt die Aufforderung, zum Gebet zu kommen.

"Der Muezzin-Ruf beinhaltet eine unterwerfende Bezeugung zu Allah und seinem Propheten Mohammed."
Integrationsexperte Kenan Güngor gegenüber watson

Güngor sagt gegenüber watson: "Der Muezzin-Ruf beinhaltet eine unterwerfende Bezeugung zu Allah und seinem Propheten Mohammed." Ein Kritikpunkt des islamischen Gebetsrufs: er "richtet sich implizit nur an die Männer und grenzt muslimische Frauen aus". Manche Menschen mit Migrationshintergrund oder traumatischer Fluchtgeschichte beklagen darüber hinaus in den Sozialen Medien, vom Muezzin-Ruf getriggert zu werden und sich bedroht zu fühlen.

Das Recht auf freie Religionsausübung gilt auch für Muslime

Oberbürgermeisterin Henriette Reker bleibt trotz Gegenwind bei ihrer Entscheidung. Sie betont das Grundrecht der freien Religionsausübung in Deutschland und entgegnet in einem Statement für watson auf die öffentliche Kritik: "Es ist nicht meine Aufgabe, religiöse Botschaften – egal welchen Glaubens – zu bewerten, geschweige denn zu verbieten, solange sich die Botschaften auf dem Boden unserer rechtsstaatlichen Prinzipien bewegen und nicht zu Intoleranz, Hass oder Ausgrenzung aufrufen."

"Wenn es Kirchenglocken gibt, soll es auch den Muezzin geben können"
Vorsitzende des Landesintegrationsbeirats Nordrhein-Westfalen Tayfun Keltek gegenüber watson

Der Vorsitzende des Landesintegrationsbeirats Nordrhein-Westfalen, Tayfun Keltek, beklagt, dass es überhaupt eine Debatte um den Muezzin-Ruf gibt. Diese sei seiner Meinung nach überflüssig und sorge nur dafür, die Menschen zu trennen. "Diese Diskussionen schaden der Atmosphäre des Zusammenlebens hier, dafür fühle ich mich verantwortlich" sagt er gegenüber watson. Keltek selbst ist nicht religiös, fordert aber im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes, den Muezzin-Ruf zu erlauben: "Wenn es Kirchenglocken gibt, soll es auch den Muezzin geben können". Außerdem betont er, dass das Grundgesetz die freie Religionsausübung in Deutschland garantiert und argumentiert:

"Ob das Grundgesetz in diesem Land passend ist oder nicht, darüber kann man diskutieren. Als die Verfasser des Grundgesetzes ihre Thesen aufgeschrieben haben, haben sie sich wahrscheinlich nicht vorgestellt, dass der Islam auch irgendwann mal in Deutschland auftauchen könnte. Bis dahin leben wir in Deutschland aber nach dem gültigen Grundgesetz, also warum haben wir damit so viele Probleme? Der Muezzin-Ruf wird als Eroberung des Abendlandes gesehen, aber das ist nicht der Fall."

Kelteks Kritik an der deutschen Gesellschaft wiegt schwer: "Wir meinen, mit unserem Grundgesetz und mit unseren Werten Weltklasse zu sein. Aber wenn es darauf ankommt, diskutieren wir kleinkariert und auf Stammtisch-Niveau", so der Vorsitzende des Landesintegrationsbeirats.

Eine säkulare Gesellschaft braucht eine gute Balance

Zum Vorwurf, dass der Muezzin-Ruf im Gegensatz zu Kirchenglocken eine Machtdemonstration mit religiöser Botschaft sei, sagt Tayfun Keltek im Gespräch mit watson: "Zum Teil stimmt das auch, aber nicht in dem Sinne, dass es die einzige Botschaft wäre." Der Muezzin sei "ein normaler Gebetsaufruf. Natürlich könnte er in er in diesem Sinne verstanden werden, aber warum muss man immer alles negativ sehen?"

Der Integrationsexperte Kenan Güngor bringt den Kern der Debatte auf den Punkt: "Die Entscheidung für den Muezzin-Ruf auf Probe fußt in der Anerkennung des migrationsgeprägten, demografischen Wandels, wie auch im Ernstnehmen, das Grundwerte wie Gleichheit, Religionsfreiheit und eine anerkennende Pluralitätspolitik für alle gelten", sagt er gegenüber watson.

Darin liege aber auch ein Widerspruch: Denn wir hätten in Deutschland leider "das Problem, dass zwar nicht alle, aber viele dieser Moscheen solche Werte nach Außen für sich geltend machen, intern aber häufig in erheblicher Distanz dazu stehen." Als Beispiel nennt Güngor die propagierten, religiös-traditionell begründeten Ungleichheitsvorstellungen in Bezug auf Frauen, Nichtmuslime oder Homosexuelle. "Man warnt vor der unislamischen Umwelt und versucht, eine islamisch imprägnierte Umgebung zu schaffen", so der Integrationsexperte.

Doch in einer säkularen Gesellschaft sei eine gute Balance entscheidend, so Güngör. Diese sei derzeit oft noch nicht realisiert: "Als religiöse Minderheit wird gegenüber der Mehrheit nach außen viel Toleranz, Vielfaltsoffenheit und Gleichheit eingefordert, intern wird häufig Gegenteiliges gesagt. Darin besteht die Doppelmoral zwischen Innen und Außen." Doch es sei wichtig, eine Balance zu finden zwischen dem Etablierungsprozess einer Religion und dem Raum, den sie für ihre religiösen Symbole einfordere. Dies sei nicht einfach und ginge auch mit vielen Fragen und Widersprüchen einer.

"Als religiöse Minderheit wird gegenüber der Mehrheit Außen viel Toleranz, Vielfaltsoffenheit und Gleichheit eingefordert, intern wird häufig Gegenteiliges gesagt."
Soziologe Kenan Güngör gegenüber watson

Das Ausleben der Vielfalt kann zu einer Überforderung des Alltags führen

So ist die gesellschaftliche Debatte zum Muezzin-Ruf in Köln nicht verwunderlich: "Es muss bedacht werden, dass in einer hyperdiversen Gesellschaft das Ausleben der Vielfalt (...) eine Überforderung und Überreizung des Alltages bedeuten kann. Von daher braucht es neben dem Leben in Vielfalt auch eine Kultur der graduellen Zurücknahme", so Güngör gegenüber watson. Ferner sollten in einer lernenden Gesellschaft die Offenheit und Aufklärung nicht nur in die eine, sondern auch in die andere Richtung gehen und keine doppelten Maßstäbe zwischen Innen und Außen zulassen. Es geht also um Rücksichtnahme und Verständnis, Regeln, die auch im Rahmen eines harmonischen zwischenmenschlichen Zusammenlebens selbstverständlich sein sollten.

Irritierend ist laut Güngör für viele Menschen auch die Gegenläufigkeit, dass in Mitteleuropa die Religion an Bedeutung verliert, während bei Muslimen die Sichtbarkeit zunimmt: "So sind Kirchen wie auch Kirchenglocken insbesondere in Städten ein verblassender Hintergrundkolorit von dem kaum religiöse Energie, Bindung und Ergriffenheit ausgeht. Bei den Muslimen ist das zum Teil anders." Zwar sei für die meisten Muslime eher der Klang des Muezzin entscheidend, doch der Inhalt des Rufs könne von einer nicht-muslimischen Gesellschaft als irritierend empfunden werden.

Der Soziologe aus Wien gibt zu bedenken, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Moscheen auch fordern könnten, den Muezzin-Ruf fünfmal täglich zu genehmigen. Schließlich stehe dieser Forderung aus Gründen der Glaubensfreiheit und Gleichheit vor dem Grundgesetz nichts im Wege. Doch Güngör warnt gegenüber watson vor den möglichen Folgen einer Ausweitung des Muezzin-Rufs: "In Stadteilen mit einer größeren muslimischen Community kann es in der Tat zu einer stärkeren religiösen Imprägnierung des Alltags kommen, in der weniger religiöse Muslime defensiv rechtfertigen müssen, warum sie der raumwirksamen Norm zum Gebetsaufruf nicht nachkommen."

"Die Leute kriegen das mehrheitlich überhaupt nicht mit"

Der Vorsitzende des Landesintegrationsbeirats Nordrhein-Westfalen, Tayfun Keltek, ist der Meinung, dass der Muezzin-Ruf als Erinnerung zum Gebet in der heutigen Zeit ohnehin überflüssig sei, da fast jeder unterwegs eine Uhr dabei habe. Den meisten Muslimen und Musliminnen sei der Ruf des Muezzins seiner Erfahrung nach auch gar nicht sonderlich wichtig: Das Thema werde vor allem auf intellektuellen oder öffentlichen Plattformen diskutiert, nicht so sehr unter den Betroffenen selbst. "Die Leute kriegen das mehrheitlich überhaupt nicht mit. Sie haben auch nicht den Ehrgeiz, dass das unbedingt gemacht werden soll", so Keltek. In Köln seien bestimmt hunderttausend Menschen Muslime, "vielleicht ist da rund ein Drittel oder ein Fünftel religiös. Und sogar denen ist das meist egal".

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