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LSBTI-feindliche Gewalt in Deutschland: Dunkelziffer ist hoch

Regenbogenflagge vor dunklem Hintergrund
Die Dunkelziffer der LSBTI-feindlichen Gewalt in Deutschland liegt schätzungsweise bei 80 bis 90 Prozent. (Symbolbild)Bild: dpa-Zentralbild / Michael Reichel
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"LSBTI-feindliche Gewalt in Deutschland wird definitiv unterschätzt": So viel Gewalt erleben queere Menschen

25.06.2021, 14:2513.09.2021, 15:27
lukas armbrust
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Diese Woche schien die Welt in Regenbogenfarben getaucht. Oder zumindest ein Teil der Welt. Am Mittwoch leuchteten Fußballstadien in ganz Deutschland bunt in der Nacht und über die ganze Republik verteilt wehten zahllose Regenbogenflaggen im Wind – ein Symbol der LSBTI-Community. LSBTI steht für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell sowie intergeschlechtlich.

Ob die UEFA, der europäische Fußballverband, mit einer solchen Reaktion gerechnet hätte? Anfang der Woche hatte sie einen Antrag aller Fraktionen des Münchner Stadtrats abgelehnt, die Allianz-Arena zum Europameisterschaftsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn in Lila, Blau, Grün, Gelb, Orange und Rot anzustrahlen. Daraufhin gab es viel Kritik, und zwar nicht nur von der Zivilgesellschaft, sondern auch seitens der Politik und des Sports.

Die UEFA hatte ihre Entscheidung mit ihren Statuten begründet: Sie sei eine politisch neutrale Organisation, der spezielle Antrag habe jedoch einen politischen Kontext.

Tatsächlich zielte die Stadt München mit der Aktion darauf ab, ein politisches Zeichen in Richtung Ungarn zu setzen. Denn dort wurde erst kürzlich ein Gesetz verabschiedet, wonach unter anderem Bücher und Filme verboten werden sollen, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und in denen Menschen mit einer sexuellen Orientierung gezeigt werden, die von der heterosexuellen abweicht.

Die Solidarität der Deutschen mit queeren Menschen in Ungarn war groß. Und vergleichbare Rückschritte hinsichtlich der Rechte von LSBTI sind hierzulande nicht zu befürchten. Dennoch müssen queere Menschen auch in Deutschland immer wieder diskriminierende und gewaltvolle Erfahrungen machen. In Berlin kam es in diesem Monat bereits mehrfach zu queerfeindlichen Angriffen, wie das Portal queer.de berichtet:

Fast 800 angezeigte homo- und transfeindliche Straftaten

Pöbeleien und Beleidigungen gehören zum Alltag vieler queerer Menschen. Doch wie die Schlagzeilen zeigen, bleibt es nicht immer bei verbalen Übergriffen. Anfang Mai hat Bundesinnenminister Seehofer die Statistik zu politisch motivierter Kriminalität für das Jahr 2020 veröffentlicht. Demnach stieg die Zahl der Straftaten im Feld "Sexuelle Orientierung" im Vergleich zum Vorjahr zwar nur von 576 auf 578.

Im Jahr 2020 wurden jedoch zum ersten Mal Straftaten im Feld "Geschlecht/Sexuelle Identität" erhoben. Darunter fallen vor allem transphob motivierte Taten, von denen 204 gezählt wurden. Insgesamt wurden also innerhalb eines Jahres bundesweit 782 Taten von Hasskriminalität gegenüber der LSBTI-Community erfasst.

Die Zahlen haben aber nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Denn die Bundesländer erfassen Hasskriminalität gegen die queere Community nicht einheitlich. Die Dunkelziffer liegt bei schätzungsweise 80 bis 90 Prozent. Doch woran liegt es, dass LSBTI-feindliche Gewalt in Deutschland so wenig sichtbar ist?

"Es gibt kaum Dunkelfeld-Studien, die diese hohe Dunkelziffer wissenschaftlich erklären", sagt Markus Ulrich, Pressesprecher des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland (LSVD), gegenüber watson. Ein Grund sei sicherlich, dass die Betroffenen nicht zur Polizei gingen und keine Anzeige erstatten würden. "Und wo keine Anzeige ist, kann natürlich kein Fall homo- oder transphober Gewalt erfasst werden", sagt Ulrich.

Die hohe Dunkelziffer hat zwei Hauptursachen

Das sieht der LSVD-Sprecher auch in einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2013 bestätigt. Demnach meldete lediglich jeder zehnte LSBTI-Befragte seine jüngste Diskriminierungserfahrung behördlich. Die drei wichtigsten Gründe für das Nicht-Melden waren demnach, weil die Befragungsteilnehmenden:

  • ... nicht glaubten, dass eine Meldung etwas bewirken würde.
  • ... glaubten, dass es die Diskriminierungserfahrung nicht wert sei ("Es passiert ständig").
  • ... nicht ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität vor den Behörden offenlegen wollten.

"Die andere Frage ist, ob es bei der Polizei richtig klassifiziert wird", sagt LSVD-Sprecher Ulrich. Es sei zwar nicht so, dass die Fälle nicht verfolgt würden, aber es könne sein, dass sie beispielsweise lediglich als Beleidigung oder Körperverletzung erfasst werden. Dann tauchen sie nur in der allgemeinen Kriminalitätsstatistik auf. Ein homo- oder transfeindliches Tatmotiv zähle jedoch wie etwa Antisemitismus zu Hasskriminalität.

LSVD-Pressesprecher Markus Ulrich
Markus Ulrich ist Presseprecher des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland (LSVD).bild: christine fiedler

Um Hasskriminalität handelt es sich, wenn sich die Tat gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen richtet und dabei ein vorurteilsgeleitetes Motiv des Täters erkennbar ist, zum Beispiel in Bezug auf die Religion, Herkunft oder eben sexuelle oder geschlechtliche Identität des Opfers. Entsprechende Taten werden in der Statistik zu politischer motivierter Kriminalität aufgeführt.

Sind die Sicherheitsbehörden zu wenig sensibilisiert?

Kritik am Umgang der Behörden mit homo- und transfeindlichen Straftaten gibt es immer wieder. Das zeigt auch der Fall um die Messerattacke auf ein homosexuelles Paar in Dresden. Ein 21-jähriger Syrer, der als islamistischer Gefährder galt, hatte die beiden Männer im Oktober vergangenen Jahres angegriffen. Eines der Opfer starb, das andere überlebte schwer verletzt.

"Bei einem heterosexuellen Paar hätte man natürlich einfach gesagt, dass ein Ehepaar angegriffen wurde."
Markus Ulrich, LSVD-Pressesprecher

Dass es sich neben einem islamistischen Tatmotiv auch um ein schwulenfeindliches handeln könnte, wollten sächsische Behörden anfangs nicht bestätigen. Wenige Tage nach der Messerattacke sagte der Dresdner Oberstaatsanwalt Jürgen Schmidt auf einer Pressekonferenz, die Behörden würden sich nicht zur sexuellen Orientierung von Tatopfern äußern.

"Bei einem heterosexuellen Paar hätte man natürlich einfach gesagt, dass ein Ehepaar angegriffen wurde" meint Ulrich. Deshalb könne man bei diesem Fall von Inkompetenz oder zumindest Insensibilität der Verantwortlichen sprechen. "Es zeigt, wie verkrampft eigentlich der Umgang mit Homosexualität bei den Dresdner Behörden ist." Und der sei natürlich nicht geeignet, um das Vertrauen der Community in die Sicherheitsbehörden zu erhöhen.

Dieses Vertrauen wird in einigen Fällen auch dadurch erschüttert, dass die Gewalt direkt von der Polizei ausgeht. Ein Fall, der in den vergangenen Jahren für viel Aufsehen gesorgt hat, war der von Sven W. Der heute 30-Jährige ist nach eigener Darstellung am Rande des Christopher Street Days 2016 in Köln nach einem Streit von mehreren Polizeibeamten homophob beleidigt und misshandelt worden. Darüber hat das ARD-Magazin "Monitor" vor Kurzem ausführlich berichtet.

"Wir waren die Strafverfolger, das kann man nicht abstreiten."
Anne von Knoblauch, Polizeioberkommissarin

Das Verhältnis der Polizei zur LSBTI-Community ist ohnehin historisch belastet. Paragraph 175 im deutschen Strafgesetzbuch stellte jahrzehntelang sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Erst 1994 wurde er abgeschafft. Auf seiner Grundlage wurden schätzungsweise 100.000 Menschen in der Bundesrepublik angeklagt, ungefähr 64.000 sollen verurteilt worden sein.

"Wir waren die Strafverfolger, das kann man nicht abstreiten. Und darunter hat natürlich das Vertrauensverhältnis gelitten beziehungsweise es hat gar nicht erst existiert", sagt Anne von Knoblauch im Gespräch mit watson. Sie ist Polizeioberkommissarin beim Landeskriminalamt in Berlin und eine der beiden hauptamtlichen Ansprechpersonen für LSBTI.

Mit dem Ziel, Vertrauen aufzubauen, seien in Berlin 1992 die beiden Stellen eingerichtet worden. Von Knoblauch und ihr Kollege Sebastian Stipp arbeiten seit 2017 in dieser Funktion. Auf ihrem Schreibtisch landet jeder LSBTI-feindliche Angriff, der in Berlin angezeigt wird. Denn dort gibt es eine Meldepflicht für alle Fälle von Hasskriminalität.

Sebastian Stipp und Anne von Knoblauch, LSBTI-Ansprechpersonen der Polizei Berlin
Sebastian Stipp und Anne von Knoblauch sind die beiden LSBTI-Ansprechpersonen bei der Polizei Berlin.bild: jana lange/polizei berlin

Berlin ist Vorreiter im Umgang mit LSBTI-feindlicher Gewalt

"Wir übernehmen nicht die Sachbearbeitung", erklärt von Knoblauch, "Aber wir nehmen im Bedarfsfall Kontakt mit der oder dem Geschädigten auf und bieten unsere Unterstützung an, zum Beispiel bei der Vermittlung an eine Opferhilfestelle." Über die Internetwache können Anzeigen in Berlin mittlerweile sogar online gestellt werden.

Zusätzlich beteiligen sich die beiden LSBTI-Ansprechpersonen an der Ausbildung neuer Polizeibeamtinnen und -beamten. In einem verpflichtenden Tagesseminar für alle Studierenden an der Polizeihochschule und Auszubildenden berichten sie von ihrer Arbeit, klären über die LSBTI-Community und Hasskriminalität auf.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ihrer Arbeit ist die Öffentlichkeitsarbeit. Viele Menschen in der Berliner LSBTI-Community kennen von Knoblauch und Stipp noch gar nicht. Deshalb sind sie regelmäßig auf Veranstaltungen präsent, stellen sich vor und klären auf. Dass Pöbeleien wie "schwule Sau" oder "scheiß Lesbe" bereits eine Straftat sein können, ist vielen Betroffen nämlich gar nicht bewusst.

"LSBTI-feindliche Gewalt in Deutschland wird definitiv unterschätzt."
Sebastian Stipp, Polizeikommissar

Die restlichen Bundesländer hinken hinterher

"LSBTI-feindliche Gewalt in Deutschland wird definitiv unterschätzt. Wenn wir in Berlin mehr als die Hälfte aller registrierten Straftaten zählen und der Rest verteilt sich auf 15 andere Bundesländer, dann kann etwas nicht stimmen. Denn selbst hier in Berlin gibt es noch ein großes Dunkelfeld", sagt Polizeikommissar Stipp.

Im Jahr 2019 sind bundesweit insgesamt 576 Fälle von Hasskriminalität gegen die sexuelle Orientierung gemeldet worden. Das Bundesland Berlin registrierte 345 Fälle davon, also mehr als die Hälfte. Stipp vermutet deshalb, dass die Zahl der Straftaten in anderen Bundesländern deutlich höher ist als offiziell bekannt.

Die Definition von Hasskriminalität und die Systematik zu ihrer Erfassung stammt vom Bundeskriminalamt und ist folglich für ganz Deutschland einheitlich – sie wird jedoch nicht einheitlich angewendet. Woran das liegt, können weder von Knoblauch noch Stipp nachvollziehen.

Eine Entwicklung stimmt die beiden Polizeibeamten vorsichtig optimistisch: In den vergangenen Jahren sind einige Bundesländer Berlins Beispiel gefolgt und haben Vollzeit-Stellen für LSBTI-Angelegenheiten bei der Polizei eingerichtet. Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und neuerdings Bremen sind dazugekommen. Jedem Bundesland, das sich künftig anschließen wolle, stehe man jederzeit beratend zur Seite, versichern die beiden Berliner.

Warum jede Anzeige hilft

Auch wenn viele Menschen aus der LSBTI-Community nach einer Diskriminierungs- oder Gewalterfahrung den Gang zur Polizei scheuen, wollen Stipp und von Knoblauch jeden und jede ermutigen, Anzeige zu erstatten – selbst wenn es "nur" eine Beleidigung war.

"Es ist nicht nur wichtig, dass ich es anzeige, um Hilfe zu bekommen, sondern auch, damit der Täter nicht ohne Konsequenzen davonkommt", sagt Polizeikommissar Stipp. "Wenn eine Beleidigung nicht verfolgt wird, dann fühlt sich der Täter in seinem Vorgehen womöglich bestätigt und es könnte beim nächsten Mal zu noch schlimmeren Straftaten kommen."

Außerdem trägt jede Anzeige dazu bei, das Dunkelfeld um LSBTI-feindliche Gewalt aufzuhellen. So besteht die Möglichkeit, dass durch steigende Zahlen auch der Druck auf politische Entscheidungsträger wächst, zu handeln.

Doch bis der dunkle Fleck im Regenbogen verschwindet und Parlamente und Regierungen stärker gegen LSBTI-feindliche Gewalt vorgehen, wird wohl noch einige Zeit vergehen.

Die queere Community in Ungarn wird dieser Tage zumindest etwas hoffnungsvoller gestimmt sein: Zwischen den vielen Solidaritätsbekundungen hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen angekündigt, gegen das ungarische Gesetz vorgehen zu wollen.

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