Nach dem Tod meines Freundes kam lange nichts, dann ein bisschen Dating und eine Zeit des Ausprobierens mit Tinder, was mir irgendwann nicht mehr gut tat. Nach einem halben Jahr Tinder-Abstinenz und langsam eingekehrter innerer Ruhe habe ich nun wieder angefangen, mich mit jemandem zu treffen: Tommaso, dem Italiener.
Was wie eine moderne Brieffreundschaft bei WhatsApp begann, ging irgendwann in Sexting über; nun haben wir uns im realen Leben getroffen.
Passiert jetzt genau das, was ich nicht mehr wollte: ein bisschen Flirten, ein paar Mal Sex, Ende?
Ich habe Tommaso ein paar Tage nach unserem ersten Treffen zu mir nach Hause eingeladen. Normalerweise mache ich das nicht, aber dieses Mal fühlt es sich ok an. Vielleicht liegt es am vielen Schreiben im Vorfeld?
Die Freundinnen mit Langzeitbeziehungen, Familie und Eigentumswohnung schlagen die Hände über dem Kopf zusammen:
Dass er mir geschrieben hat, er würde gerne mal in mein Gesicht kommen, habe ich nicht erzählt, um ihnen eine Ohnmacht zu ersparen.
Ich habe ihn jetzt einmal getroffen und glaube zumindest einschätzen zu können, dass er kein systematisch agierender Frauenmörder ist. Alles andere lässt sich vor Ort aushandeln, denke ich.
Nachdem wir uns im "Real Life" wieder verabredet haben, kriege ich pünktlich am Morgen des Treffens meine Tage.
Weil es in unserer virtuellen Konversation irgendwann immer expliziter um Sex ging, informiere ich ihn in einer kurzen Nachricht über die Situation. Er sagt, er wolle trotzdem kommen.
Wir unterhalten uns, gucken Game of Thrones und machen ein bisschen rum. Danach verabreden wir uns für ein neues Treffen und gleich auch für einen Museumsbesuch. Eine nicht-sexuell-intendierte Aktion, auch das ist neu. Geradezu vorbildlich bieder – die Freundinnen wären zufrieden.
Der Museumsbesuch ist lustig; wir sind stundenlang unterwegs und ich langweile mich keine Minute. Wir beschließen, öfter Ausflüge zu machen. Als meine Tage vorbei sind zeigt sich, dass alles andere mindestens genauso gut ist.
Aber irgendwie höre ich auf, nachzudenken, und überlasse mich selbst einer Sache, die ich nicht steuern muss.
Es folgen weitere Museumsbesuche, winterliche Ausflüge an Seen, gemeinsames Essen, viel Wein, Sex und GoT.
Er interessiert sich für Verschwörungstheorien, mag keine Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit und bewundert Putin.
Eine kurze Zeit bin ich wahnsinnig stolz, dass ich es schaffe, alles so "casual" zu gestalten, total locker, quasi als Freizeitgestaltung plus benefits.
Er erzählt, dass er Sprachtandems trifft, durchweg junge Frauen. Ich sage mir, dass es mir vollkommen egal ist, weil das mit uns sowieso ein zeitlich gebundenes Arrangement ist. Der ein oder andere Typ von Tinder schreibt auch noch, so what?
Nein, tue ich nicht. Und als mich irgendwann ein Typ, mit dem ich letzten Sommer unglaublich guten Sex hatte, nach langer Zeit zum Essen einladen will, sage ich in letzter Minute ab.
Die kommenden Osterferien verbringen die Kinder auswärts und ich frage Tommaso, ob er mit mir einen Kurzurlaub machen will, irgendwohin raus aus der Stadt. Er hat zwischenzeitlich entschieden, im Sommer zum Arbeiten nach Italien zu gehen. Also, die letzten Tage genießen und dann wieder in die Schlafanzug-Tee-Abendroutine? Oder zurück zu Tinder?
Wenige Tage später gehen wir am Meer entlang, es ist wahnsinnig kalt, aber sonnig. Ich bin fröhlich, er sitzt neben mir im Strandkorb, wir trinken einen Aperitif.
Wir reden über etwas lustiges, er lacht, wir machen ein Selfie, obwohl ich weiß, dass er das nicht mag.
Nach dem Tod meines Freundes habe ich das für ziemlich unmöglich gehalten und jetzt, mit diesem Typen unter den bescheuertsten Umständen, passiert es doch.
Als ich ihm das sage, reagiert er verhalten. Was er denkt,
weiß ich nicht.
Eine knappe Woche später bringe ich ihn morgens zum Flughafen. Wir verabschieden uns und als ich fast weine, sagt er, ich hätte doch schon Schlimmeres geschafft. Den ganzen Tag fühle ich mich beschissen. Am Abend, als die Kinder im Bett sind, schreibt Tommaso, wieder aus Italien.